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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen
Autoren: Stephan Marks
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erhörte ihr Wehklagen und gedachte an seinen Bund mit Abraham, Isaak und Jakob. Moses 2, 23-24
    Daher beginnt die Geschichte Israels mit dem Tag, an dem sie sich ihres Leids und ihrer Schmerzen über ihre Lebenssituation bewusst werden und diese öffentlich zum Ausdruck bringen. Mit dem Tag, an dem sie nicht länger zu den ägyptischen Göttern beten: zu Göttern, die ihnen weder zuhören, noch antworten. Dies ist der wesentliche erste Schritt zu einem neuen Bewusstsein und in der Folge zu einer neuen gesellschaftlichen Realität der Israeliten: ihrem Auszug aus der Sklaverei.
    Für Brueggemann besteht prophetische Kritik darin, die Menschen hin zu ihrer eigenen ruhelosen Trauer zu bewegen: sie »wegzuhegen« von den etablierten Beschwerde-Instanzen, die ihnen gegenüber gleichgültig sind. Wesentlich ist, dass die Israeliten sich nichts mehr vom abgestumpften Herrschaftssystem des Pharao und dessen Göttern erhoffen.
    Dieses System möchte glauben machen, dass alles schon gegeben sei, dass sich nichts ändern wird. Seine Sprache ist die Sprache der Manager; dabei geht es nur um Produktion, Termine und Märkte, und darin ist kein Platz für wirkliche Veränderung. Demgegenüber bringen Propheten eine neue gesellschaftliche Realität zum Ausdruck.

    Jeremia
    Jahrhunderte später, in der salomonisch geprägten Gesellschaft. Hier herrscht ein unglaublicher Wohlstand und Überfluss, der jedoch ungerecht verteilt ist. Mitmenschlichkeit ist ersetzt durch eine Konsumhaltung, in der die Mitmenschen nur als ausbeutbare Objekte betrachtet werden. Gerechtigkeit ist eingetauscht gegen Saturiertheit; aber, so Brueggemann, das Glück von Saturiertheit ist nicht dasselbe wie das Glück der Freiheit. Wenn wir Menschen uns jedoch gegenüber dem Unrecht, das unserem Nächsten widerfährt, immun machen, dann töten wir auch unsere Leidenschaft ab. Und wo die Leidenschaft fehlt, da ist auch keine Kraft zur Veränderung.
    Das Lebensgefühl dieser Gesellschaft ist Überdruss an der Welt, Langeweile, Eitelkeit und Entfremdung. Die Vision von Freiheit, Mitmenschlichkeit und Gemeinschaft ist ersetzt durch Sicherheit, Ausbeutung und Wohlstand – für die Herrschenden; deren Kosten sind von den gesellschaftlich Unteren zu tragen.
    Die Ökonomie dieses Reiches ist ganz darauf ausgerichtet, die Menschen saturiert zu halten. Eine andere Zukunft ist nicht vorstellbar; alternative Zukunftsentwürfe gelten als schlechter Witz oder Verrücktheit, als Fall für den Psychiater. Politik besteht aus Aktentaschen, Limousinen, Pressekonferenzen, Sollvorgaben und neuen Waffensystemen – und in dieser Welt ist kein Platz für Wehklagen und Tanzen. Die Menschen sollen ihre Schmerzen nicht spüren, sondern durch Konsum wegdrücken. Man ist optimistisch.
    »Saturiertheit für alle«: Mit diesem politischen Programm wurde das Verständnis dessen, was es heißt, Mensch zu sein, umdefiniert. Im Mittelpunkt steht nur noch die Befriedigung der eigenen, narzisstischen Begehrungen. Dieses Programm wird unterstützt durch eine Management-Mentalität, wonach es keine Lebendigkeit zu feiern, sondern nur Probleme zu »managen« gilt. Mitgefühl mit dem Nächsten ist abgeschafft
– als ob der Einzelne auf Dauer ohne »Du« leben könnte, als beziehungsloser »Self-made-man«.
    Die Menschen sind abgestumpft: »Du sollst nicht merken.« Demgegenüber ist es die Aufgabe der Propheten, den Menschen zu helfen, ihrer eigenen Wahrnehmung und Erfahrung zu trauen und wieder zu »merken«: dass wir uns nämlich zu Tode leiden; dass wir, wenn wir so weitermachen wie bisher, zugrunde gehen werden; dass die Dinge nicht für immer managebar bleiben werden.
    Diese Einsicht ist schmerzhaft, denn, so Brueggemann (1978, 47), »wir sind nicht in der Lage, unserem eigenen Tod in die Augen zu schauen.« Weil es zu aufwendig und zu schmerzhaft ist, das drohende böse Ende anzunehmen, muss dieses verleugnet werden. Denn alles andere würde ja das Eingeständnis bedeuten, dass man nicht alles unter Kontrolle hat; dass es nicht gut ausgehen wird; dass keineswegs alles in Ordnung ist.
    Robert Lifton beobachtete bei Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki einen psychischen Schutz-Mechanismus: Man möchte über etwas Schreckliches nicht informiert sein. Denn wenn man etwas nicht weiß, dann wird es vielleicht nicht passieren und man kann sich noch eine Weile länger etwas vormachen. Nach Brueggemann verfügt unsere Gesellschaft über keine Symbole, die tief oder stark genug sind, um dem Terror
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