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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen
Autoren: Stephan Marks
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der Realität zu entsprechen. Stattdessen ergehen wir uns in Optimismus, um die Trauer, die Ohnmacht, die Verzweiflung und die Scham über die Zukunft, die wir gewählt haben, zu verleugnen.
    In dieser Situation ist es die Aufgabe des Propheten, durch die herrschende Taubheit und Selbst-Täuschung »hindurchzuschneiden«: Er bietet Symbole an, die dem Horror der Wirklichkeit angemessen sind und die Verleugnung beenden. Er bringt genau die Ängste und das Grauen zum Ausdruck, die so lange verleugnet werden mussten, dass wir oft gar nicht mehr wissen, dass sie da sind.

    Der Prophet schafft dies nicht durch analytische Sprache, sondern mit Metaphern, sodass die Menschen an ihren Erfahrungen angesprochen werden. Auf diese Weise bringt er seinen Mitmenschen die Ängste und Schmerzen nahe, die sie verzweifelt mitteilen möchten, aber bisher nicht konnten. Er spricht die wahre Tödlichkeit an, die über uns dräut und an uns zehrt. Er bringt öffentlich das Grauen darüber zum Ausdruck, dass es zu Ende geht: mit unserer Ich-Bezogenheit; mit den Barrieren und Hackordnungen, durch die wir uns auf Kosten unserer Mitmenschen absichern; mit unserem Überfluss, der auf Kosten unserer hungernden Brüder und Schwestern geht.
    Der Prophet »schneidet« durch die Taubheit und Verleugnung des herrschenden Bewusstseins mit einer Sprache, die seine Gemeinschaft in Trauerarbeit zusammenführt: mit einem Vokabular des Schmerzes. Im Grunde ist dies die Trauer Israels angesichts seines eigenen drohenden Begräbnisses. Für Brueggeman (1978, 51) stellen Trauer und Verzweiflung die ultimative Kritik dar, weil sie das Ende des herrschenden Arrangements der optimistischen Verleugnung und Abstumpfung ankündigt. Beispielhaft hierfür steht Jeremia.
    Dieser Prophet wird oft als Weltuntergangsprophet oder heulendes Weichei missverstanden. Dabei artikuliert er genau das, was die Gemeinschaft verleugnen muss, um mit ihrer Selbsttäuschung fortzufahren. Er betrauert das kommende Ende seines Volkes und die Tatsache, dass dies keiner hören will. Jeremia tut dies nicht aus Selbstmitleid, sondern weil er gesehen hat, was jeder sehen könnte, wenn er nur schauen würde:
    O mein Leib, mein Leib! Ich winde mich vor Schmerz. O meines Herzens Wände! Mein Herz tobt in mir; ich kann nicht schweigen. Denn ich höre Trompetenschall und Kriegslärm; »Schlag auf Schlag« schreit man, das ganze Land wird verwüstet. Plötzlich sind meine Zelte vernichtet, im Nu sind meine Zeltdecken dahin.

    Wie lange noch muss ich die Kriegsfahne sehen, Trompetenschall hören?
    (…) Ich schaute die Erde an: Sie war wüst und wirr. Ich schaute zum Himmel: Er war ohne sein Licht. (…)
    Ich schaute hin: Das Gartenland war Wüste und all seine Städte waren zerstört, zerstört durch den Herrn, durch seinen glühenden Zorn.
    Jeremia 4: 19–26
    Jeremia durchdringt die Abgestumpftheit des herrschenden Optimismus, indem er die Negativität anerkennt und die verleugnete Trauer und Verzweiflung ausspricht. Indem er die Angst und Scham angesichts der Zukunft ausspricht. Jeremia weiß, dass der verleugnete Schmerz lähmt und Neues blockiert; dass nur Trauernde sich weiterentwickeln können; dass erst Trauer Neues ermöglicht:
    Ach, wäre mein Haupt doch Wasser, mein Auge ein Tränenquell: Tag und Nacht beweinte ich die Erschlagenen der Tochter, meines Volkes.
    Jeremia 8: 23
    Jesaja II
    Während optimistische Menschen den Tod nicht sehen, können pessimistische Menschen das Neue nicht wahrnehmen. Dieses sichtbar zu machen ist die Leistung des Propheten Jesaja II:
    Imperien wie das ägyptische der Pharaonen, wie das salomonische oder das babylonische verstehen sich als unveränderlich, als endgültig, »alternativlos«, als das Ende der Geschichte. Die Verhältnisse sollen so bleiben wie sie sind.

    Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne.
    Zwar gibt es bisweilen ein Ding, von dem es heißt: Sieh dir das an, das ist etwas Neues - aber auch das gab es schon in den Zeiten, die vor uns gewesen sind.
    Buch Kohelet 1: 9–10
    Durch eine solche Weltsicht werden die gesellschaftlich Unteren in die Verzweiflung gedrückt. Denn ohne Hoffnung auf Veränderung wird ihr Leben zu einem unbefriedigenden endlosen »Durchhalten und Bewältigen«. Dringend notwendig wäre in dieser Situation ein Denken, welches die Verhältnisse in einer alternativen Weise interpretiert und Platz schafft für wirklich Neues . Aber so ein
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