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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen
Autoren: Stephan Marks
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Denken ist völlig unakzeptabel, weil unser Denkvermögen stark eingeschränkt ist durch die herrschende Sprache und die herrschende Vorstellung von dem, was als »richtige Erkenntnis« gilt.
    Wie ist da Neues überhaupt denkbar? Diese Überlegung darf nach Brueggemann nicht mit der Frage anfangen, ob eine alternativ gedachte Zukunft »realistisch« oder »politisch machbar« oder »ökonomisch tragfähig« ist. So zu fragen würde dem herrschenden Denken von vornherein das Feld überlassen.
    Wir müssen vielmehr zuallererst unsere Fähigkeit zurückgewinnen, uns Neues überhaupt vorstellen zu können. Dies genau ist für Brueggemann eine Aufgabe des Propheten: die soziale Fantasie zu fördern und soziale Gestaltungskräfte freizusetzen. Dies beginnt genau nicht mit der Frage, ob eine Vision implementiert werden kann, weil die Vorstellung vor der Implementierung kommen muss. Unsere heutige Gesellschaft ist fähig, fast alles zu implementieren, aber fast nichts sich vorzustellen. Damit kommen wir zu Jesaja II und der Zeit im babylonischen Exil.
    Hier ist das herrschende Lebensgefühl Pessimismus. In dieser Situation ist es die Aufgabe des Propheten, durch die Bewältigungs-Mentalität hindurchzuschneiden und Symbole
anzubieten, die der verbreiteten Hoffnungslosigkeit widersprechen:
    Jesaja kündigt eine alternative Zukunft an. Er tut dies jedoch nicht mit neuen, schnell erfundenen, optimistischen Slogans (»Yes, we can«), sondern indem er ganz weit zurückgeht in das kollektive Gedächtnis seiner Gemeinschaft und dort jene Symbole wieder lebendig macht, die schon früher der Ausgangspunkt waren für eine Befreiung aus einer Versklavung: Er erinnert seine Mitmenschen an den Auszug der Israeliten aus Ägypten.
    Seht her, nun mache ich etwas Neues. Schon kommt es zum Vorschein, merkt ihr es nicht? Ja, ich lege einen Weg an durch die Steppe und Straßen durch die Wüste.
    Jesaja 43: 19
    Hoffnung ist demnach keine späte, oberflächlich aufgeheftete Hypothese, um schnell ein akutes Krisensymptom zu kurieren, sondern eine grundlegende Dimension des Gedächtnisses einer Gemeinschaft. Der Prophet bringt die Sehnsüchte zum Ausdruck, die so lange verleugnet waren, dass wir gar nicht mehr wussten, dass sie da sind.
    Die Sprache der Hoffnung ist nicht akademisch, sondern poetisch, sodass sie die Menschen auf verschiedenen Ebenen zu berühren vermag. Ihre Sprache ist nicht grandios (womit sie den Kontakt mit der Wirklichkeit verlieren würde), aber auch nicht trivial (sodass sie nichts bewirken könnte). Sie ist weder »Brot und Spiele« (womit sie die herrschende Hoffungslosigkeit nur unterstützen würde), noch Hoffnung ohne Trauer (was eine falsche, trügerische Hoffnung wäre). Denn es sind genau die Menschen, die den Schmerz und die Trauer kennen, die am lebendigsten über Hoffnung sprechen können.
    Jesaja schneidet durch den herrschenden Pessimismus mit der Sprache des Staunens. Er kündigt Neues an, das der Wahrnehmung seiner Zeitgenossen diametral widerspricht. Dabei ist die Hoffnung, die er ankündigt, nicht ein angenehmer Gefühlszustand
oder ein neuer spiritueller Zustand, sondern eine radikale politische Ansage:
    Bereitet dem Herrn den Weg, macht auf dem Gefilde eine ebene Bahn unserm Gott!
    Jesaja 40: 3
     
    Steig auf einen hohen Berg, Zion, du Botin der Freude! Erheb deine Stimme mit Macht, Jerusalem, du Botin der Freude! Erheb deine Stimme, fürchte dich nicht! Sag den Städten in Juda: Seht, da ist euer Gott. Seht, Gott der Herr, kommt mit Macht
    Jesaja 40: 9–10
     
    Aber die Blinden will ich auf dem Wege leiten, den sie nicht wissen; ich will sie führen auf den Steigen, die sie nicht kennen; ich will die Finsternis vor ihnen her zum Licht machen und das Höckerichte zur Ebene. Solches will ich ihnen alles tun und sie nicht verlassen.
    Jesaja 42: 16
    Jeremia wie Jesaja versuchen, die herrschende Haltung zu durchdringen – der eine die optimistische Abgestumpftheit, der andere die pessimistische Hoffnungslosigkeit ihrer Zeit. Letzterer fordert Israels Vorstellungskraft zurück und betont eine Neuheit, die so alt ist, dass sie fast vergessen wurde, aber im kollektiven Gedächtnis noch lebendig ist. Durch den Rückbezug auf die Lobgesänge des Moses werden die Israeliten mit Kraft erfüllt. Aus durchlebtem Leiden wird Leidenschaft. So energetisiert Jesaja seine Mitmenschen.
    Weißt du es nicht, hörst du es nicht? Der Herr ist ein ewiger Gott, der die weite Erde erschuf. Er wird nicht müde und matt,
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