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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen
Autoren: Stephan Marks
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hoffen zu können, ist zutiefst menschlich – Tiere vermögen dies nicht (Pieper 2009, 27). Für Immanuel Kant zählt sie zum Kanon der vier Fragen, die für das menschliche Selbstverständnis grundlegend sind: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?
    Hoffnung ist mehr als nur Theorie; sie ist auch mit positiven Gefühlen verbunden (Kast 2008). Vermutlich geht das Wort zurück auf »hüfen«, also etwa: »vor freudiger Erwartung springen«. Hoffnung ist jedoch mehr als nur eine flüchtige Stimmung, die – mehr oder weniger zufällig – kommen oder
gehen mag. Sie kann relativ beständig sein, kann aber auch enttäuscht werden und wieder verschwinden (Brodda 2006, 25). Sie ist daher keine feste Charaktereigenschaft, die der eine Mensch von Natur aus besitzt (»sie hatte schon immer so ein sonniges Gemüt«) und der andere nicht (»er ist halt von Natur aus schwermütig«).
    Hoffnung lässt sich nur bedingt vornehmen. Auch wenn Lernprogramme im »positiven Denken« durchaus hilfreich sein können: Hoffnung ist so einfach nicht zu haben. Sie lässt sich auch nicht von anderen einfordern; etwa wenn Stéphane Hessel (2011, 20) dazu aufruft: »Wir müssen hoffen, immerzu hoffen.« Oder wenn der Management-Professor Kets de Vries (2009) Politiker und Manager dazu auffordert, Hoffnung zu verbreiten: »Man muss dieses pessimistische Denken stoppen«.
    Hoffnung ist vielmehr eine Haltung, für deren Gewinnung wir sehr viel tun können; Klaus Brodda (2006, 25) spricht vom »hoffnungsbildenden Prozess«. Freilich lässt sich Hoffnung nicht »machen« im Sinne des herrschenden Machbarkeitswahns. Dies mag mit dazu beitragen, dass der Begriff, so Haimerl (2006, 56), »in unserer gesellschaftlichen Landschaft fast wie ein verlorener Außerirdischer« anmutet, denn er beinhaltet auch etwas, was vielleicht als Geschehenlassen, Gnade oder Geschenk umrissen werden könnte (insofern »fällt« Hoffnung in gewisser Weise doch »vom Himmel«).
    Hoffnung kann aus einem Prozess entstehen, durch den wir sie schöpfen können; dies wird in den folgenden Abschnitten ausgeführt: Zunächst, in einem Exkurs, aus theologischer Sicht, dargestellt am Beispiel von vier Propheten aus dem Alten Testament und der Gegenwart, in den folgenden Kapiteln aus psychologischer und pädagogischer Perspektive.

2. Vier Propheten
    In einem ersten Durchgang durch das Thema werde ich den Prozess der Hoffnung am Beispiel der alttestamentarischen Propheten Moses, Jeremia und Jesaja II sowie Martin Luther King jr. darstellen. Dabei beziehe ich mich auf den US-amerikanischen Theologen Walter Brueggemann (1978, 1986), dessen Ausführungen ich hier in freier Übersetzung zusammenfasse:
    Propheten werden häufig oberflächlich als Wahrsager oder politische Aktivisten missverstanden. Wie Brueggemann zeigt, sind sie jedoch in viel grundlegenderer Weise mit gesellschaftlichem Wandel befasst: Ihre Aufgabe besteht darin, ein Wahrnehmungsvermögen und Bewusstsein zu fördern, das alternativ ist zur herrschenden Wahrnehmung und zum Bewusstsein ihrer Zeit. Dabei sprechen die drei Propheten nicht nur ein jeweils aktuelles, manifestes Krisensymptom an, sondern  – viel grundlegender – die latente Dauerkrise ihrer Gesellschaft. Brueggemann führt dies aus an drei Abschnitten in der Geschichte Israels, an denen er idealtypisch das Wirken der Propheten Moses, Jeremia und Jesaja II beschreibt: in der Sklaverei in Ägypten; in der salomonisch geprägten Überfluss-Gesellschaft und im babylonischen Exil.
    Moses
    Moses initiiert eine radikale Veränderung der Lebenssituation der Israeliten: ihren Auszug aus der Sklaverei in Ägypten. Er erreicht dies, indem er die Haltung seiner Mitmenschen, die ihre Versklavung erst ermöglichte, grundlegend verändert. Denn solange der Pharao die optimistische Illusion aufrecht zu erhalten vermochte, dass im Grunde alles in Ordnung sei, solange konnte keine ernsthafte Kritik stattfinden. Diese beginnt,
so Brueggemann (1978, 20), mit der Fähigkeit zu trauern: Dies ist die radikalste Kritik. Denn darin kündigt sich die Tatsache an, dass die Dinge, so wie sie sind, nicht gut sind. Dies wird im Alten Testament so beschrieben:
    Und die Kinder Israel seufzten über ihre Arbeit und schrien, und ihr Schreien über ihre Arbeit kam vor Gott. Und der Herr sprach: Ich habe gesehen das Elend meines Volkes in Ägypten und habe ihr Geschrei gehört über die, so sie drängen; ich habe ihr Leid erkannt. Und Gott
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