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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen
Autoren: Stephan Marks
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Aufgabe konfrontiert (z. B. das »Wasser des Lebens« oder einen goldenen Ring zu finden, eine verwunschene Prinzessin zu befreien usw.). Die Aufgabe erscheint zunächst so unlösbar, dass der oder die Held/-in sich entmutigt hinsetzt und weint. Daraufhin tritt unerwartet eine helfende Figur auf, deren Beistand die – oft ganz überraschende  – Lösung der Aufgabe ermöglicht.
    So saß etwa Odysseus »am Gestade des Meeres und weinte beständig. / Ach! In Tränen verrann sein süßes Leben, voll Sehnsucht / Heimzukehren (…) zerquälte sein Herz mit Weinen und Seufzen und Jammern / Und durchschaute mit Tränen die große Wüste des Meeres.« Durch die Trauer gewinnt Odysseus den Willen, die ewig junge, ihn zu ewiger Jugend verlockende Göttin Kalypso zu verlassen, um zur sterblichen, aber menschlichen Penelope zurückzukehren. Seine Tränen lösen einen Wandlungsprozess aus, der symbolisiert ist im Auftreten der ihm lange entschwundenen Schutzgöttin Athene und der Idee, ein Floß zu bauen, welches ihn endlich in die Heimat trägt (Marks 1993, 129).
    Ein weiteres Beispiel ist das Märchen »Die drei Federn« der Gebrüder Grimm (1990, 296–299): »Es war einmal ein König, der hatte drei Söhne, davon waren zwei klug und gescheit, aber der dritte sprach nicht viel, war einfältig und hieß nur der Dummling. Als der König alt und schwach ward und an sein Ende dachte, wusste er nicht, welcher von seinen Söhnen nach ihm das Reich erben sollte. Da sprach er zu ihnen: ›Ziehet aus, und wer mir den feinsten Teppich bringt, der soll nach meinem Tod König sein.‹ Und damit es keinen Streit unter ihnen gab, führte er sie vor sein Schloss, blies drei Federn in die Luft und sprach: ›Wie die fliegen, so sollt ihr ziehen.‹ Die eine Feder flog nach Osten, die andere nach Westen, die andere flog aber geradeaus und flog nicht weit, sondern fiel bald zur Erde. Nun ging
der eine Bruder rechts, der andere ging links, und sie lachten den Dummling aus, der bei der dritten Feder, da, wo sie niedergefallen war, bleiben musste.
    Der Dummling setzte sich nieder und war traurig. Da bemerkte er auf einmal, dass neben der Feder eine Falltüre lag. Er hob sie in die Höhe, fand eine Treppe und stieg hinab. Dort unten begegnete er einer großen, dicken Kröte, die ihm schließlich den feinsten Teppich (später auch den schönsten Ring und die schönste Frau) schenkte. Währenddessen hatten seine Brüder über den Dummling gelacht und sich keine große Mühe mit der Suche gemacht. Daher erhielt am Ende der Dummling die Krone und hat lange in Weisheit geherrscht.«
    So sind es in Märchen häufig gerade nicht die Klugen, die Überheblichen, die Lauten, die Prominenten (diejenigen, denen gegenwärtig auch die Schlagzeilen in den Medien gehören), denen die Lösung der Aufgabe gelingt. Vielmehr sind es die ruhigen, bescheidenen, langsamen und häufig verspotteten Menschen, welche die »schwer zu erreichende Kostbarkeit« gewinnen. Oder, symbolisch betrachtet, sind es die als minderwertig verachteten Aspekte unseres Selbst – die abgewehrten Emotionen –, aus denen am Ende die Rettung für das alt und schwach regierte Land erwächst: Weisheit.
    Neben Mythen und Märchen gibt es darüber hinaus eine Fülle weiterer Umschreibungen des Wandlungsprozesses. So vergleicht der Narrationsforscher und Gerontologe William Randall (2007) manche Aspekte des Erinnerns mit einem Kompostierungs-Prozess: Erfahrungen und Wahrnehmungen werden, vergleichbar mit Küchenabfällen, im Gedächtnis abgelegt. Lässt man den Kompost-Haufen eine Zeitlang in Ruhe, dann verschwimmen unbemerkt, in der Dunkelheit des Komposts, allmählich die Erinnerungen zwischen einzelnen Bestandteilen bzw. Erfahrungen und verwandeln sich in Weisheit: fruchtbaren Boden für Neues.
    Literarische Umschreibungen der Transformation finden sich auch bei Mystikern wie z. B. Johannes vom Kreuz
(er spricht von der dunklen Nacht der Seele), bei Theologen wie Meister Eckhart (»Der Grund der Seele ist dunkel«) oder Matthew Fox (1991, 155): »Das menschliche Wachstum findet im Dunkeln statt. Im Unter-Grund. In unterirdischen, tiefen Gängen. Wo nie ein Bild den Grund der Seele erreichte, wirkt allein Gott.«
    Auch von Dichtern wie Rainer Maria Rilke (zit. in: Fox 1991, 174): »Du Dunkelheit, aus der ich stamme, ich liebe dich mehr als die Flamme, welche die Welt begrenzt (…). Eine große Kraft rührt sich in meiner Nachbarschaft. Ich glaube an Nächte.« Der Dichter Kenji Miyazawa
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