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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen
Autoren: Stephan Marks
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geht ins Meer, um gegen die Wellen anzukämpfen und gegen den Wind anzubrüllen. Er hat sein Messer schon am Handgelenk, begeht den Suizid letztlich jedoch nicht. Um diese Zeit liest er zum ersten Mal Gedichte und lernt über einen Freund, Drew Cameron, wie man aus Stoffstreifen Papier herstellt. Jon Turner holt sogleich seinen eigenen Kampfanzug hervor und zerschneidet den Drillich mit einer Schere. Er weicht den Stoff ein, zermanscht die Uniform zu Brei und schöpft mit einem Drahtgeflecht das Papier, das ihm das Leben rettet: »Für mich war es der Beginn meines Heilungsprozesses.«
    Jon Turner hat heute ein Atelier. Zu Beginn seiner schöpferischen Arbeit verbrennt er Kräuter in einer Schale, so wie es schon bei den Indianern gemacht wurde. Er zertrennt Uniformen  – auch die seines Vaters, Bruders, Großonkels – und zerschneidet damit buchstäblich auch seine familiäre Tradition. Auf das selbstgeschaffene Papier schreibt er seine Gedichte; z. B. das folgende:
    Du hast mich nie gelehrt zu hassen,
nur zu lieben, aber Mom,
ich habe einen Menschen getötet.
Es tut so weh, Mom. Ich muss daran
jeden Tag denken. Du hast uns großgezogen,
nicht, um Monster zu sein.
Du hast mich nie gelehrt zu hassen, Mom.
    Jon Turner sagt: »Man nimmt etwas, das das Finsterste erlebt hat, was man erleben kann. Und man löst es einfach auf. Man zerlegt das Negative und macht etwas Positives daraus. Etwas, mit dem jeder was anfangen kann. Papier eben.«
    Der Veteran engagiert sich gegen den Krieg. Bei einem Anti-Kriegs-Hearing 2008 zerreißt er seine Orden und wirft sie ins applaudierende Publikum. »Für euch arbeite ich nicht mehr«, ruft er seinen einstigen Dienstherren des Marine Corps zu. Turner sieht sich jedoch »nicht als Anti-Kriegs-, sondern als Friedensaktivist«, da schon das Wort »anti« etwas Negatives vermittelt; er sagt von sich: »Ich bin es leid, von Negativität umgeben zu sein.«
    Inzwischen machen ein Dutzend Veteranen beim »Combat Paper Project« ( www.combatpaper.org ) mit. Die Künstler fahren durch die USA und laden andere Veteranen zum Mitmachen ein, auch in anderen Ländern wie z. B. dem ehemaligen Jugoslawien. »In unseren Schränken oder auf Dachböden in Kisten hausen die alten Uniformen wie Geister«, so Cameron. Die Männer verbinden damit Erinnerungen und Assoziationen an Blut, Tod, Unterordnung und Krieg; dies alles wollen sie »einfach in etwas Schönes umformen.« (zit. in: Klüver 2011, 3). Kriegsveteranen, die das Grauen, das sie erlebt haben, in etwas Positives umwandeln, gehören für den Militär-Seelsorger William Mahedy (1986) zu den Propheten der Gegenwart.

4. Leidenschaft
    Der Begriff der Trauerarbeit hat in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend Akzeptanz in unserer Gesellschaft gefunden. Es gibt zahlreiche Seminare, Kurse und Weiterbildungen, in denen die Teilnehmenden lernen, eigene Trauer zu verarbeiten sowie sterbende Menschen und deren Angehörigen darin zu begleiten. In einer wachsenden Zahl von Einrichtungen (z. B. in Hospizen, Palliativmedizin und -pflege) ist Trauerbegleitung zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Ganz anders sieht es jedoch aus, was den Umgang unserer Gesellschaft mit anderen schmerzhaften Emotionen betrifft.
    Die Schmerzen über die Welt
    Schmerzhafte Emotionen treten ja nicht nur beim Tod eines nahestehenden Menschen auf, sondern auch dann, wenn wir erschütternde Nachrichten von der Welt sehen, hören oder lesen. Um nur einige zu nennen:
Angst vor der Zukunft und Sorge um das Leben unserer Kinder und Enkel: Denn wenn nicht sehr bald entschieden gegengesteuert wird, hinterlassen wir ihnen Berge von Schulden, Müll und radioaktiven Abfällen, ein zerstörtes Weltklima sowie vergiftete Beziehungen zwischen den Ethnien.
Wut über die Ignoranz und Unfähigkeit vieler Politiker und Meinungsführer, die scheinbar ungerührt »weiter so wie bisher« praktizieren.
Abscheu und Empörung über die Rücksichtslosigkeit und Gier vieler Banker und Wirtschaftsmanager.
Ohnmacht und Verzweiflung angesichts der Komplexität und des Umfangs der Veränderungen, die notwendig sind,
um die Not vielleicht noch zu wenden. Hinzu kommt Hilflosigkeit angesichts der eigenen beschränkten Kräfte und Möglichkeiten.
Verunsicherung und Misstrauen angesichts der Gifte in Nahrung, Luft, Trinkwasser und sogar Muttermilch.
Trauer über den unwiederbringlichen Verlust der Pflanzen-und Tierarten, die Tag für Tag aussterben oder ausgerottet werden.
Mitgefühl und Entsetzen, wenn
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