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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen
Autoren: Stephan Marks
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Teufelskreis.
     
    Schmerzen haben im Grunde die wichtige Aufgabe, uns auf Krankheiten aufmerksam zu machen und uns zu warnen, z. B. wenn wir uns überfordern. Der Schmerz ist, so die Philosophin Svenja Flaßpöhler (2011, 40) »der Wächter über unsere Gesundheit, ein Schutzpatron, der (…) die Grenzen zieht: Bis hierher und nicht weiter!«
    In der westlichen Welt wurde der Schmerz jedoch über Jahrhunderte politisch (z. B. Folter) und spirituell missbraucht: Durch eine asketische Interpretation des Christentums wurde er zum Selbstzweck überhöht und verherrlicht – anzuschauen in den unzähligen Darstellungen gefolterter Heiliger in katholischen Kirchen.
    Im Gegensatz dazu erzieht die Moderne die Menschen zunehmend dazu, Schmerzen nicht als Warnsignal zu betrachten, sondern als Störung, die durch Medikamente zu eliminieren
ist. Die Abschaffung des Schmerzes wurde nicht zuletzt durch die Fortschritte in der Entwicklung von Schmerzmitteln in die Wege geleitet. Dies hat zur Folge, dass Menschen immer weniger bereit sind, Schmerz anzunehmen; er wird vielmehr als »unnötiges und unfruchtbares Residuum betrachtet, das der Fortschritt beseitigen muss, ein furchtbarer Anachronismus, der zu verschwinden hat«, so der Soziologe Le Breton (2003, 191).
    Mit der Abschaffung des Schmerzes verliert der Mensch jedoch das Bewusstsein für seine Grenzen. Denn der Schmerz, so der Philosoph Volker Caysa (2006, 298), zeigt »die Würde des Körpers«; er signalisiert, wenn wir beginnen, uns zu überfordern, vielleicht sogar zu zerstören. Nur wer den Schmerz ernst nimmt, nimmt sich selbst ernst – und seine Mitmenschen:
    Denn nur weil wir Menschen wissen, wie eine Verletzung schmerzt, können wir auch das Leid anderer Menschen empathisch mitfühlen, wahrnehmen und zu vermindern suchen. Wir handeln ja moralisch nicht nur aufgrund abstrakter, theoretischer Einsichten (aus »Pflicht«, wie Immanuel Kant schrieb), sondern auch, weil wir ein Leid, auch wenn es nicht das eigene ist, dennoch mitempfinden können, als sei es das eigene. Dies wird durch die neurobiologischer Erforschung der Spiegelneuronen bestätigt, wie Joachim Bauer (2005) in seinem Buch »Warum ich fühle, was du fühlst« beschreibt.
    Ein Mensch aber, dem Schmerzen fremd sind, wird »sich selbst immer der Nächste bleiben« (Flaßpöhler 2011, 41); er wird mitleidlos, da ihm auch der Schmerz des Anderen fremd bleibt. Er kann die Welt nur gedämpft erleben, wie in Watte eingehüllt. Und doch wird der Schmerz – ausgerechnet in einer Zeit, die sich seiner Ausrottung verschrieben hat – an anderen Stellen umso mehr künstlich erzeugt: Daher die Zunahme von Selbstverletzungen (z. B. durch Ritzen), von riskantem Verhalten (z. B. im Sport, beim Motorradfahren, im Drogenkonsum) oder, medial inszeniert, von Action-Filmen und Horror-Literatur. Dies erscheint mir eine Art der Verschiebung zu sein: der
real existierende Horror (aktuell: von Fukushima, Irak, Afghanistan, um nur einige Beispiele zu nennen) wird durch andere Horror-Welten ersetzt, die künstlich sind und daher politisch folgenlos bleiben. Gewiss haben die geschauspielerten Tode im Film Titanic weit mehr Kino-Besucher zu Tränen gerührt als die realen Hunderte von Menschen, die bei ihren Versuchen, in die »Festung Europa« zu fliehen, ertrinken; dies geschieht heute.
     
    Viele Menschen verdrängen die Emotionen über die Welt, weil sie befürchten, davon überwältigt und gelähmt zu werden, sodass wir den Alltag nicht mehr bewältigen können. Oder wir fürchten uns davor, als schwach zu gelten und beschämt zu werden, wenn wir unsere Ängste und Sorgen zum Ausdruck bringen. Schließlich wird vom Einzelnen erwartet, immerzu stark, gut gelaunt, aktiv, dynamisch, erfolgreich, jung, unternehmungslustig und gesund zu sein. In diesem herrschenden Klima des Optimismus haben »negative« Gefühle wie Angst, Ohnmacht oder Verzweiflung keine Daseinsberechtigung. Dies gilt traditionell vor allem für Männer, die befürchten müssen, als »schwach«, »unzuverlässig« oder »emotional nicht belastbar« zu gelten. Aber auch viele Frauen halten ihre Sorgen über die Welt zurück, um nicht herablassende Kommentare wie »typisch Frau« zu ernten (Macy / Brown 2001, 41).
    Eine weitere Ursache dafür, unsere Emotionen über die Welt zu verbergen, dürfte darin liegen, dass Gefühle traditionell als »Privatsache« betrachtet werden. Bedingt durch unsere Geschichte, wurde in Deutschland die Privatsphäre zu dem Ort für
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