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Im Sog der Gefahr

Im Sog der Gefahr

Titel: Im Sog der Gefahr
Autoren: Toni Anderson
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Prolog
    1982 – Bamfield, Vancouver Island, Kanada
    Die gewaltigen Kiefern ragten bedrohlich über ihr auf, doch nichts regte sich. Die Schatten machten sie nervös. Es gab viele Bären auf der Insel, und sie war nicht scharf darauf, einem hungrigen Exemplar zu begegnen. Ein knackender Zweig im Wald ließ sie herumfahren.
    »Mama, Mama! Schau mal!«
    Als ihre Tochter von einem Baumstamm neben der Schotterstraße sprang, rang sich Bianca ein müdes Lächeln ab. Sie hielt den Kinderwagen an und lobte das kleine Mädchen für seinen Mut. »Hey, wie toll, du kannst fliegen.« Als Leah loslegte und sich mit ausgebreiteten Armen wild im Kreis drehte, den Kopf hingebungsvoll in den Nacken gelegt, lächelte sie breit.
    Kam jeder Mensch so voller Freude auf die Welt? Und wurde diese Freude von Tränen und Versagen fortgespült, oder verschwand sie einfach nach und nach, während das Leben Sorgen und Enttäuschungen vor einem auftürmte?
    Ein durchdringender Schrei drang aus dem Kinderwagen.
    »Ich habe dich gerade erst gefüttert, du Nimmersatt.«
    Sie waren auf dem Weg in die örtliche Bücherei, aber nach dem anschwellenden Geschrei des sechs Wochen alten Tommy zu urteilen, würde er nicht bis dahin durchhalten. Jedes Aufheulen stach ihr wie eine Nadel in den Schädel, bis sie es keine Sekunde länger aushielt. »Komm, setz dich hier hin, Leah. Ich stille deinen Bruder, bevor er mich noch in den Wahnsinn treibt.«
    Sie schob den Kinderwagen an den Straßenrand und fegte den groben Schmutz und die Kiefernnadeln vom Stamm eines umgestürzten Baums. Als sie Tommy losschnallte, wurde sein wütendes, rotes Gesicht noch zorniger. »Fütter mich, und zwar sofort, was?«
    Schwer ließ sie sich auf die ebene Fläche sinken und hob ihr T-Shirt an, das sie unter dem dicken Jeanshemd trug. Dann öffnete sie ihren BH und half dem Baby beim Andocken. Sie hätte auf ihre Mutter hören und dem kleinen Monster einfach Fertignahrung geben sollen.
    Schuldgefühle waren etwas Furchtbares.
    Ihr zog sich das Herz zusammen, als die beiden winzigen Händchen nach ihrer Brust griffen und der Junge mit großen, unschuldigen Augen zu ihr aufsah. Die vollkommene Stille des Waldes lastete schwer auf ihr, während ihr Sohn hungrig saugte. Plötzlich überlief sie ein Kribbeln. Hastig hob sie den Kopf und sah nach links. »Leah?«
    Sie reckte den Hals, so weit sie konnte, ohne aufzustehen. »Spielst du Verstecken, Baby? Mami kann dich jetzt nicht suchen kommen. Gib mir nur zwei Minuten …« Wie oft hatte sie diese Worte schon zu ihrem geduldigen kleinen Engel gesagt? Sie presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.
    Besorgnis zupfte an den Rändern ihres Bewusstseins, aber sie war so müde, und Leah war ein großartiges Kind, auch wenn sie gerade in die typische Trotzphase einer Zweijährigen kam. Sie würde nicht weit weglaufen. Tommy nuckelte weiter. Seine Wärme und Zufriedenheit machten Bianca schläfrig.
    Wie aus dem Nichts traf sie der erste Anflug von Panik. Sie schreckte hoch. Hier draußen gab es nicht nur Bären, sondern auch Pumas. »Leah? Leah! Komm sofort zurück!« Sie stand auf und lief mit dem jammernden Tommy auf dem Arm ins Unterholz, wo sie das Mädchen zuletzt gesehen hatte.
    War sie gestürzt und hatte sich verletzt? Saß sie hinter einem Gebüsch und wartete mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht darauf, gefunden zu werden?
    Bianca drang tiefer in den Wald vor. Den Kopf des kleinen Tommy vor herabhängenden Ästen schützend, drehte sie sich im Kreis und suchte nach einem Aufblitzen der roten Jacke, die ihre Tochter trug. Das Baby an ihrer Schulter fing an zu schreien; sanft wiegte sie sein Köpfchen und versuchte, ihn so sicher wie möglich zu halten, während ihr eine eisige Woge der Verzweiflung über den Rücken lief. »Leah.« Sie ließ ihre Stimme in einem melodischen Singsang erklingen, obwohl sie am liebsten geschrien hätte. »Schätzchen, komm zu Mami. Wir müssen jetzt in die Bücherei. Du möchtest doch neue Bücher, oder nicht? Versteck dich bitte nicht.«
    An einer Lichtung blieb sie stehen. Die Fläche war leer, das Laub unberührt. Hier war niemand entlanggekommen. Als sie umkehrte, trat eine Gestalt aus den Büschen zwischen ihr und der Straße. Angst drang ihr bis ins Mark. Der Mann trug eine schwarze Maske, ein Werkzeuggürtel saß auf seiner Hüfte, und in einer Hand balancierte er einen Hammer. Biancas Mund war wie ausgedörrt. Ihr Herzschlag donnerte in kleinen Explosionen durch ihren Körper,
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