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Weil du mich erloest

Weil du mich erloest

Titel: Weil du mich erloest
Autoren: Beth Kery
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KAPITEL 8
    Der Morgen war kühl, frisch und windstill. Nach einem kleinen Frühstück machte Francesca mit Anne und Elise einen Spaziergang durch die Anlagen. Sie gab sich alle Mühe, konzentriert zu wirken und an den Gesprächen teilzunehmen, während sie durch Felder, Gärten und Wälder gingen, aber die besorgten Blicke der anderen Frauen verrieten ihr, dass ihnen ihr abgelenkter, verschlossener Blick nicht verborgen geblieben war. Auf dem Rückweg zum Haus wollte Elise gerne die hochmodernen Ställe anschauen.
    »Du bist heute Morgen sehr still«, sagte Anne zu ihr, als sie kurz unter sich waren, da Elise in einiger Entfernung eine rostbraune Stute streichelte.
    Francesca blinzelte, als sie aus ihrem Grübeln erwachte. Sie schenkte Anne ein Lächeln.
    »Ich habe viel über das Gemälde nachgedacht.«
    »Du hast viel über Ian nachgedacht.«
    Sie erschrak und blickte in Annes trauriges, wissendes Lachen.
    »Hat er es eingesehen?«, wollte die ältere Dame hoffnungsfroh wissen.
    Francesca biss bei dieser Frage die Zähne zusammen.
    »Nein. Er bleibt dabei. Er hat sich fest vorgenommen, unglücklich zu bleiben.«
    Anne seufzte.
    »Nach meiner Erfahrung nehmen Menschen es sich nur selten vor, alleine und traurig zu bleiben. Vermutlich haben sie vielmehr das Gefühl, dem nicht ausweichen zu können.«
    Francesca spürte ein Bedauern.
    »Ich weiß«, versicherte sie, mit Frust in der Stimme. »Aber warum besteht er darauf, dass Trevor Gaines so wichtig für ihn sei? Ian hat ihn doch nie kennengelernt! Er ist tot, Gott sei Dank«, flüsterte sie.
    Anne legte die Hand auf Francescas Arm.
    »Ich weiß, dass es sehr schwierig ist, das zu verstehen. Gerade wegen eurer Situation.«
    »Du hast recht«, brach es in aller Ehrlichkeit aus Francesca heraus. »Ich ärgere mich, dass er so halsstarrig ist. Aber meinst du es ehrlich, kannst du ihn wirklich verstehen?«
    »Ja. Ich bin nicht seiner Meinung und sehr besorgt über seinen Zustand, aber ich kann ihn tatsächlich verstehen.« Anne schüttelte den Kopf. »Ian hatte eine kaputte Kindheit. Er hat sich wie ein Erwachsener um Helen gekümmert und sich Tag und Nacht Gedanken darüber gemacht, dass er wohl in ein Heim käme, würden die Dorfbewohner bemerken, wie verrückt sie wirklich war. Und er hat sich vor den Momenten gefürchtet, wenn seine Mutter sich aus Angst vor ihm verkrochen hat. Ich bin überzeugt, dass der Augenblick, in dem Lucien ihm das Foto von Gaines gezeigt hat, auf dem er Ian so ähnlich sieht, wohl die schlimmste, aber auch die beste Minute in Ians Leben war.«
    »Die beste ?«, wiederholte Francesca perplex.
    »Na ja, vielleicht nicht die beste , aber wohl … bedeutendste. Er hat immer versucht, sich eine Vorstellung von seiner Vergangenheit zu machen. Er hat sich Mühe gegeben, doch es war, als würde Helens gestörter Geist, ihre Krankheit, ihn daran hindern, sich ein genaues Bild zu machen. Als Kind hat er uns immer wieder die gleichen Fragen gestellt: Warum wird ein Mensch verrückt? Würde er wie seine Mutter werden? Wenn sein Vater nicht schizophren war, war es dann möglich, dass er es auch nicht würde? Wer war sein Vater? Warum hatte er sich nicht um Helen gekümmert?« Bei diesen Erinnerungen verzog Anne das Gesicht. »Die Vorstellung, dass ein Erwachsener sich um ihn kümmern könnte, war ihm so fremd, dass er nie auf die Frage kam, warum sich sein Vater nicht um ihn gekümmert hatte.«
    Francesca schloss die Augen, um sich gegen den Schmerz dieser Vorstellung zu wappnen.
    »Er hat immer vermutet, sein Vater hätte Helens Verwundbarkeit ausgenutzt«, fuhr Francesca wenig später fort. »Er hatte Angst, sie sei vergewaltigt worden. Ich verstehe nicht, wie die Erkenntnis, dass all seine Vermutungen stimmten – ja, dass es sogar schlimmer war, als er befürchtet hatte – auch nur andeutungsweise etwas Gutes für ihn sein könnte.«
    »Weil es für ihn ungemein wichtig ist, Dinge zu durchschauen, wie du weißt. Ian ist wohl einer der konzentriertesten, methodischsten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Dinge zu verstehen schätzt er sehr hoch. Das hängt zum Teil, denke ich, damit zusammen, dass er als junger Mensch gezwungen war, mit der fehlenden Orientierung und dem irrationalen Verhalten seiner Mutter umzugehen. Ist dir klar, wie schwer es für ihn gewesen sein muss, alles Wissen über seine Herkunft nur von einer geisteskranken Frau bekommen zu können? Er kompensierte dies, indem er ihre gemeinsame Welt so ordentlich, kontrolliert und
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