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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war
Autoren: Pistorius Martin
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    Prolog
    I m Fernsehen läuft wieder mal Barney, der Dinosaurier. Ich hasse Barney – und diese scheußliche Erkennungsmusik. Sie wird zur Melodie von ›Yankie Doodle Dandy‹ gesungen.
    Auf dem Bildschirm sehe ich, wie Kinder in die ausgebreiteten Arme des riesigen violetten Dinosauriers hüpfen, hopsen und springen, und danach schaue ich mich in meinem Zimmer um. Die Kinder hier liegen regungslos auf dem Boden oder sitzen zusammengesunken auf ihren Stühlen. Ein Gurt hält mich aufrecht in meinem Rollstuhl. Mein Körper ist genau wie bei den anderen ein Gefängnis, dem ich nicht entrinnen kann: Wenn ich sprechen möchte, bleibe ich stumm, wenn ich meinen Arm bewegen will, gehorcht er mir nicht.
    Es gibt nur einen Unterschied zwischen mir und den anderen Kindern: Mein Verstand ist hellwach. Er schlägt Purzelbäume und macht Saltos in dem Versuch, seine Fesseln zu sprengen und einen Feuerstrahl prachtvoller Farben in meine graue Welt schicken zu können. Doch niemand weiß davon, da ich es niemandem erzählen kann. Die Leute meinen, ich sei eine leere Hülle, weil ich hier seit neun Jahren tagaus, tagein sitze und mir Barney oder Den König der Löwen reinziehen muss; und als ich dachte, schlimmer könne es nicht kommen, kreuzten auch noch die Teletubbies auf.
    Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, doch meine Erinnerungen an die Vergangenheit beginnen erst mit jenem Moment, in dem ich wieder zum Leben erwachte und aus irgendeiner Welt auftauchte, in der ich mich verloren hatte. Es war, als blendeten mich plötzlich Blitzlichter in der Dunkelheit. Ich hörte Leute über meinen sechzehnten Geburtstag reden und darüber diskutieren, ob sie mir die Bartstoppeln abrasieren sollten. Mir machte Angst, was ich da mit anhören musste, denn obgleich ich mich an nichts erinnern konnte und keine Vorstellung von der Vergangenheit hatte, war ich mir sicher, ein Kind zu sein, und die Leute unterhielten sich über einen Menschen auf der Schwelle zum Mann. Langsam wurde mir jedoch klar, dass sie mich meinten, genauso wie ich zu begreifen begann, dass ich eine Mutter und einen Vater, einen Bruder und eine Schwester hatte, die ich jeden Abend zu Gesicht bekam.
    Haben Sie mal einen dieser Filme gesehen, in dem jemand als Geist aufwacht, aber die Menschen haben keine Ahnung davon, dass sie längst gestorben sind? So war das, als ich mitbekam, wie die Leute durch mich hindurch und an mir vorbei schauten, und ich verstand nicht, weshalb. Ich konnte anstellen, was ich wollte, ich konnte betteln und bitten, schreien und brüllen – durch nichts brachte ich sie dazu, Notiz von mir zu nehmen. Mein Geist war in einem nutzlosen Körper gefangen, Arme und Beine waren außer Kontrolle, meine Stimme blieb stumm. Ich konnte weder Zeichen noch Geräusche von mir geben, um irgendjemanden wissen zu lassen, dass ich das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Ich war unsichtbar – der Geisterjunge.
    So lernte ich es, mit meinem Geheimnis umzugehen und wurde zum stummen Zeugen meiner Umwelt, während sich mein Leben als triste Aneinanderreihung gleichförmiger Tage träge dahinschleppte. Neun Jahre sind vergangen, seit ich das Bewusstsein wiedererlangt habe, und in dieser Zeit konnte ich mit Hilfe der einzigen Kraft, über die ich verfüge – meinen Geist – alles ergründen, vom schwarzen Schlund der Verzweiflung bis hin zum psychedelischen Land der Fantasie.
    In diesem engen Rahmen bewegte sich mein Leben, bis ich Virna begegnete, die als Erste und Einzige vermutete, dass in meinem Inneren ein aktives Bewusstsein verborgen ist. Sie möchte, dass ich es morgen unter Beweis stelle, wenn ich in einer Klinik untersucht und getestet werde, die darauf spezialisiert ist, Stummen zu einer Stimme zu verhelfen, die allen Betroffenen – Menschen mit Downsyndrom und Autismus oder mit Gehirntumor und Schlaganfall – Kommunikation ermöglicht.
    Ein Teil von mir weigert sich, daran zu glauben, dass sich die Person in der Hülle während dieser Untersuchung befreien könnte. Ich hatte lange gebraucht, mich mit dem Unvorstellbaren abzufinden und endlich zu akzeptieren, dass ich in meinem Körper gefangen war, und jetzt habe ich bereits Angst, nur daran zu denken, ich könnte in der Lage sein, meinem Schicksal eine Wendung zu geben. Doch wie bange mir auch sein mag, wenn ich die Möglichkeit in Betracht ziehe, dass letzten Endes doch jemand meine Anwesenheit bemerken sollte, dann darf ich hoffen, mein Heil in der Flucht suchen zu können.

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    1
Zeit zählen
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