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Die Einsamkeit des Chamäleons

Die Einsamkeit des Chamäleons

Titel: Die Einsamkeit des Chamäleons
Autoren: Patricia Holland Moritz
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Schuhe auszog.
    Â»Morgen, Herr Bresecke!«
    Sie winkte ihm zu und bekam ein kurzes Hupen zur Antwort.
    Auf dem Weg zum Bad zog sie sich aus und legte die verschwitzte Kleidung in den Wäschekorb. Im Jazzradio lief ein Mix aus klassischen Stücken, denn es war Ostern, Gründonnerstag, sieben Uhr morgens.
    Sie duschte ausgiebig, wickelte sich in ein Badetuch und setzte sich mit ihrer Zeitung an den Küchentisch. Ein Blick auf die Uhr, bestes Timing! Im Radio begann jetzt das Livekonzert von Al Jarreaus Konzert an der Staatsoper in Wien vor vier Jahren. Die Erinnerung an Wien machte Rebekka glücklich.
    Es war ein wunderbarer Sommer gewesen, damals, und ihr Aufenthalt in der Stadt nur sehr kurz, aber doch lang genug, um den Prater und das Hundertwasserhaus in japanischer Manier abzufotografieren. Nach einer Portion Torte und drei Melange im Café Hawelka hatte sie in einem langen Abendkleid, Cowboyboots, Lederjacke und wallender Lockenmähne die Oper betreten, als wäre diese das Kaufhaus, nach dem das Gebäude aussah. Sie hatte jede von Al Jarreaus Bewegungen, jedes Zucken seiner Mundwinkel aus nächster Nähe betrachten können. Manchmal hatte sie das sogar mit geschlossenen Augen getan.
    So lauschte sie auch jetzt wieder dem Konzert, schloss die Augen und trank langsam ihren Kaffee. Dann griff sie zur Berliner Zeitung und las aus Gewohnheit die Todesanzeigen. Ihr Puls erhöhte sich, als sie die Annonce entdeckte:

    Wir trauern um
    Karl-Heinz Otto
    Am 26. März 2010 verstarb Karl-Heinz Otto im Alter von 59 Jahren.
    Sein Tod macht uns sehr betroffen. Wir werden ihn in guter Erinnerung behalten.
    Seinen Angehörigen gelten unser besonderes Mitgefühl und unsere aufrichtige Anteilnahme.
    Vorstand, Personalrat und Mitarbeiter
    Recycling, Verschrottung und Co.

    Das war er. Rebekkas Hände zitterten, als sie das schwarz umrandete Viereck mit vorsichtigen Schnitten heraustrennte. In die rechte obere Ecke schrieb sie die Zahl 19.
    An dieser Stelle hätte sie aufhören, die Zeitung wegwerfen, sich umziehen, zum KaDeWe auf einen Krabbencocktail fahren, dann ins Kino gehen und die Sache allmählich vergessen können. War es so vielen Menschen egal, was in dieser Firma geschah, dann war Rebekka die Letzte, die sich damit zu befassen hatte. Doch das hier war mehr. Es musste einen Grund geben, warum sie mit einem so maroden Talent gesegnet war, hinter scheinbarem Alltag das Dunkle, Böse und Unerforschte zu sehen, das sie zum Handeln trieb, wo es sonst keiner tat. Ihr winkten weder Heldenplakette noch Friedenspreis. Die innere Genugtuung beim Auflösen einer solchen Geschichte war Rebekka ein Kick, den ihr der schönste Sex mit Mark nicht geben konnte und keine Droge dieser Welt bereithielt.
    Von keinem der bisher Verstorbenen hatte Rebekka einen Namen. Eine Stunde lang durchsuchte sie das Online-Archiv der Berliner Zeitung , fand jedoch keine der früheren Anzeigen. Sie hatte die Namen an sich vorbei ziehen lassen, die sie jetzt so dringend brauchte. Rebekka lehnte sich zurück und schloss die Augen. Eine Minute der Meditation. Farbe wechseln. Neu einstellen. Der heutige Tag war orange.
    Sie klopfte drei Mal auf die hölzerne Tischplatte, um trotz ihrer statistischen Vorliebe kein weiteres Unglück heraufzubeschwören. Im selben Moment spürte sie es wieder, jenes Kribbeln, das ihr jedes Mal den neuen Fall verkündete.
    Ihre Instinkte waren viel schneller als ihre Gedanken: In ganz Berlin starben täglich um die 80 Menschen. Viele wurden erst Monate oder gar Jahre später gefunden und von niemandem betrauert. Sie wurden entsorgt und aus ihren Wohnungen gefegt zusammen mit dem Staub, zu dem auch ihr Leben mit allem Erlebten zerfallen war.
    Beinah jeden Monat starb ein Mitarbeiter dieser Firma.
    Mark hatte Rebekka mit dieser wunderbaren Herablassung angeschaut, als sie ihm zum ersten Mal von ihrem Verdacht erzählte. Damit hatte sie neues Terrain betreten. Sein Terrain. Wie die Freundin eines Regisseurs, die sich zur Schauspielerin berufen sah, benutzte sie nun plötzlich sein Vokabular aus Motiv, Gelegenheit und Durchführung. Mit ihrem Verdacht hatte sie einen Nerv getroffen. Mark war sofort auf ihrer Seite, als habe er durch Rebekkas Hinweis eine Bestätigung für etwas bekommen, was Rebekka gar nicht abschätzen konnte und was größer war als die ominösen Todesfälle.
    Rebekka war überzeugt davon: Selbst für den Fall einer
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