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Das Halsband des Leoparden

Das Halsband des Leoparden

Titel: Das Halsband des Leoparden
Autoren: Boris Akunin
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Das Halsband des Leoparden
    Das Fußballspiel, über das Fandorin von englischen Bekannten so viel gehört hatte, erwies sich als grässlicher Unfug. Das war kein Sport, das war Klassenkampf: Ein Haufen Männer in roten Jerseys fällt über einen Haufen Männer in weißen Jerseys her, und das nur wegen eines aufgeblasenen Stücks Schweinsleder. Ein echter Sportwettkampf wie Boxen, Lawntennis oder Radrennen führte die Tradition des Ritterturniers fort, beim Fußball aber griffen zwei oder drei Männer ungeniert einen Einzigen an. Keine Spur von Ritterlichkeit! Und entsprechend waren auch die Zuschauer. Sie schrien, gestikulierten, sprangen von den Bänken. Als wären sie keine Engländer, sondern Papuas.
    Zutiefst überzeugt, dass diese Vergnügung ohne Zukunft sei, verließ Fandorin das Stadion, ohne erfahren zu haben, ob die Lokalmannschaft in eine ominöse Westliga aufsteigen würde – wer immer dazugehören mochte.
    In Wirklichkeit war nicht der Sportwettkampf schuld an der Verstimmung des geflohenen Moskauer Beamten, sondern die dumpfe Einsamkeit, die ihn inmitten der Menschenmenge erfasst hatte. Natürlich war er daran gewöhnt, für sich allein zu sein, doch hier kam eins zum anderen: Ein fremdes Land, eine fremde Stadt, der Zusammenbruch seines gesamten bisherigen Lebens, eine vollkommen ungewisse Zukunft und obendrein ein demütigender Geldmangel – ein Zustand, den Fandorin seit langem nicht mehr erlebt hatte.
    Man legte sich eben nicht mit den Mächtigen an. Schon garnicht, wenn man in Russland lebte. Noch vor zwei Monaten ein einflussreicher Mann, kurz vor der Ernennung zum Oberpolizeimeister von Moskau, war Fandorin nun ein Niemand. Mit fünfunddreißig gezwungen, ganz von vorn anzufangen.
    Ein neues Leben begann man selbstredend am besten in der Neuen Welt. Wo sonst? Doch nach Amerika musste Fandorin erst einmal gelangen.
    Vorerst saß der in Ungnade gefallene Staatrat in Bristol fest, von wo aus Schiffe der Dampfschifffahrtsgesellschaft »City Line« nach New York gingen, und wartete bereits die dritte Woche auf seinen japanischen Kammerdiener.
    Fandorin hatte die alte russische Hauptstadt Hals über Kopf verlassen müssen, ohne die Antwort auf sein Entlassungsgesuch abzuwarten. Er stand also ohne Aussicht auf Gehalt und Prämien da und besaß keinerlei erspartes Kapital, lediglich ein kleines Haus in der Malaja Nikitskaja – das Masa nun für ihn verkaufen sollte. Der Erlös würde für ein paar Jahre reichen, und in dieser Zeit wollte sich Fandorin einen neuen Beruf aneignen. Zum Beispiel den eines Ingenieurs.
    Ein anderer, leichterer Weg zu finanzieller Unabhängigkeit führte über Wiesbaden oder Monte Carlo. Mit seinem unglaublichen Glück bei Glücksspielen hätte Fandorin vermutlich nur einen Tag am Roulettetisch verbringen müssen, um der Sorge um das tägliche Brot für immer ledig zu sein. Doch das hätte er als unredlich empfunden. Er genierte sich ein wenig für seine rätselhafte Gabe, benutzte sie nur im äußersten Notfall und hatte keineswegs die Absicht, ein Gigolo Fortunas zu werden.
    Da dem so war, durfte er höchstens eine halbe Zigarre pro Tag rauchen, musste mit der Pferdebahn fahren, und, statt im »Royal Hotel« zu wohnen, für ein Pfund, zwei Schillinge und sechs Pence die Woche ein kleines Zimmer mit Frühstück und Nachmittagstee mieten.
    Allerdings in einem sehr anständigen Viertel – im Grunde dem besten der Stadt. Es lag auf einem Hügel und bestand ausschließlich aus architektonisch zwar etwas nüchternen, aber von herrlichen Gärten umgebenen Villen. Nach einer Woche hatte der ehemalige Staatsrat die Spaziergänge durch die gepflegten Parks und den Anblick der einzigen Sehenswürdigkeit am Ort – der hundert Sashen 1 langen Hängebrücke über den Avon – gründlich satt.
    Es war Anfang April. An den Bäumen glänzten die ersten Blätter , die Rasenflächen waren von unerträglich sattem Grün, doch Fandorin ging in all dieser Pracht mit einem gänzlich novembrigen Gesicht umher.
    Der einzige Lichtblick für den aus seiner Heimat Vertriebenen war die allabendliche Teestunde mit seiner Wirtin Miss Palmer.

    Dabei hatte er sie bei ihrer ersten Begegnung für vollkommen senil gehalten.
    Eine verschrumpelte Greisin, zerbrechlich wie Porzellan, hatte ihm geöffnet. Als sie hörte, der Besucher sei auf ihre Anzeige in der »Western Daily Press« gekommen, hatte sie ihre Brille zurechtgerückt, die blassblauen Augen auf den großen Brünetten gerichtet und vorsichtig
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