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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
Autoren: Tom Pollock
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erneut. Die Zeit war um.
    Sie spürte nadelspitze Füße zwischen den feinen Knochen an ihrem Fuß, dann krabbelten sie ihr Bein hinauf. Sie sah die Spinne nur für eine Sekunde ihre Schulter heraufkommen; in der nächsten war sie bereits unter dem Kinn verschwunden und kribbelte in der Mulde direkt unterhalb ihrer Kehle.
    »Auf die Plätze?« Das Tier hatte sich seine Stimme von irgendeiner Sportsendung aus dem Radio geliehen.
    »Ja«, antwortete Beth und spürte kurz darauf zwei Stiche, wo die Mundwerkzeuge der Spinne die Haut an ihrem Hals durchstießen.
    »Fertig. Los!«
    Es tat nicht weh. Ihre Stimmbänder strafften sich, und sie fühlte, wie der Klang durch die winzigen Stichwunden heraussickerte, Tropfen für Tropfen, Silbe für Silbe. Ein unwiderstehlicher Drang zu schlucken packte sie, ein paar Dezibel nur zurückzustehlen, wenigstens ein Flüstern für sich zu behalten – aber sie wusste, dass es so eben nicht funktionierte; der Deal galt für alles: ihre komplette Stimme. Das Mutternetz verband eine lange Geschichte mit Gossenglas, und sein Preis dafür, dass es Beth dabei half, sie bloßzustellen, war sehr hoch gewesen. Die »Freiwilligen«, die die Spinnen an ihrem Radiomast festbanden, hielten nie lange; sie waren Wind und Wetter voll ausgesetzt, und ohne Nahrung und Wasser trockneten ihre Stimmen rasch aus und erstarben, sodass die Spinnen abermals über die Stadt ausschwärmen mussten, um die Leitungen nach den Vergessenen und den Verwundbaren abzuklopfen.
    Beth hatte ihre eigene Stimme angeboten, die kräftig und ausdauernd war – sie durften so viel Nährkraft daraus ziehen, wie sie ihnen gab, für Beths gesamte restliche Lebenszeit. Die einzige Bedingung war, dass sie sie ihr sozusagen in freier Wildbahn abzapfen mussten. Sie hatte den Voltspinnen erlaubt, sie als Nutztier zu halten, aber wenigstens konnte sie sich frei bewegen. Und wenn Beth ihnen alles gab, was sie brauchten, dann mussten sie sich keine anderen »Freiwilligen« mehr suchen.
    Letzte Nacht hatte Beth zugesehen, wie das rothaarige Mädchen aus dem Turm der Spinnen gestolpert war. Zumindest dieses eine hatte die Chance ergriffen, der Welt aufs Neue zu begegnen.
    Als die Spinne mit der Fütterung fertig und fort war, saß Beth eine Weile lang auf dem Dach. Sie holte tief Luft und öffnete den Mund, aber nichts kam heraus, nicht mal ein Zischen. Sie hob den Blick zu dem Wandgemälde, zu ihrer Geschichte, die sie mit Farbe und Pigmenten der Stadt eingeprägt hatte, und ihre Lippen verzogen sich zu einem gequälten Lächeln. Es war es wert.
    Pen wartete auf sie am Fuß des Turms. Es war Sonntag, sodass nur wenige Menschen auf den stahl- und glasgesäumten Straßen von Canary Wharf unterwegs waren. Diejenigen, die doch vorbeikamen, starrten auf Pens Narben, was Beth jedes Mal zusammenzucken ließ, doch Pen starrte grimmig zurück, was Beth stolzer als alles andere machte.
    »Also, B. Wie geht’s voran mit dem Bild?«, fragte sie.
    Beth nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern, universelle Gebärdensprache für Ganz okay, schätze ich .
    Pens Blick wurde sanft. »Ist die Spinne gekommen?« Sie streichelte Beth mit den Fingerspitzen über die Wange. »Geht’s dir gut?«
    Erneut eine Schulterzucken-und-Nicken-Combo.
    Pen umarmte sie fest. »Das nenn ich Rückgrat, Beth Bradley«, flüsterte sie Beth ins Ohr. »Bin stolz auf dich.«
    Sie gingen langsam um Westferry Circus herum und dann Richtung Limehouse. Die Wolkenkratzer wichen Reihen von Backsteinhäusern und Plattenbausiedlungen. Wann immer sie einen ruhigen Ort fanden, ging Beth in die Hocke und zeichnete ein schnelles Bild mit ihrem Filzstift – eine Schildkröte oder einen Kran. Pen notierte sich gelegentlich eine Zeile in den Block, den sie dabeihatte, aber sie taggte nicht. Graffiti waren schon immer mehr Beths Ding gewesen, und inzwischen hatte Pen nicht mehr das Bedürfnis, ihr alles nachzumachen.
    »Morgen zurück in die Schule.«
    Beth nickte.
    »Ich frage mich, was die andern Mädchen wohl dazu sagen werden.« Pen strich sich mit den Fingern übers Gesicht. Sie wollte noch etwas anderes sagen, doch dann überlegte sie es sich anders. Stattdessen fragte sie: »Wie steht’s mit dir? Kommst du morgen auch wieder? Ich hab mich bei der Bürgerberatung erkundigt, und die haben gesagt, Gorecastle sei ein ordentliches Stück zu weit gegangen, als sie dich rausgekickt hat für das, was wir angestellt haben. Wir können deinen Schulausschluss aufheben lassen.« Sie standen
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