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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
Autoren: Tom Pollock
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du dir wirklich nie die naheliegendste Frage gestellt? All diese Tode von all diesen Bordsteinpriestern, all diese zerbrechlichen, kostbaren Sterblichkeiten, bezahlt an die Synode: Sie waren eine Ware . Hast du dich nie gefragt, was Mater Viae sich mit ihnen erkauft hat?«
    Beths Augen verengten sich. Sie schüttelte den Kopf.
    »Na, ihren eigenen .«
    Beth blinzelte. Es dauerte einen Moment, bis sie die Bedeutung des Ganzen erfasst hatte. »Selbstmord?« , flüsterte sie. »Wieso?«
    »Du weißt, wieso«, entgegnete Gossenglas nüchtern. »Du hast gesehen, was Reach gewesen ist.«
    Das pummlige Babygesicht, das neugierig aus den Trümmern hervorschaute, erschien wieder vor Beths geistigem Auge, und gleichzeitig hörte sie Fils Stimme. Generation um Generation … sie hat ihn mit einem Feuer verbrannt.
    »Sie hat ihn getötet«, murmelte sie, »wieder und wieder – seit Hunderten von Jahren: hat immer dasselbe unschuldige Geschöpf verbrannt, dasselbe Kind .« Beth war entgeistert, völlig entsetzt.
    » Ihr Kind«, schnaubte Gossenglas. »Immerhin wurde er aus der Stadt geboren.«
    » Thems … Gott … ich will mir gar nicht vorstellen … kein Wunder, dass sie’s nicht aushalten konnte – «
    Gossenglas’ Entgegnung war ein barscher Tadel. »Sie war eine Göttin . Es war ihre Pflicht, es auszuhalten!« Die Wut ließ sie kurz die Kontrolle verlieren, und befreite Insekten wuselten wie verrückt über ihr Papiergesicht.
    »Sie ist nicht sofort gestorben. Es hat die Synode mehr als drei Viertel eines Millenniums gekostet, um einen Trank zu brauen, in dem die unbedeutenden Vergänglichkeiten der Sterblichen sich zu einem Tod vermengten, der stark genug war, um eine Göttin dahinzuraffen. Und während all dieser Zeit hat sie gelogen, völlig ungeniert .« Gossenglas spuckte aus. »Als die erste Generation in Stein wiedergeboren wurde, nannte sie es Strafe . Sie behauptete, sie wären ihr etwas schuldig.«
    Gossenglas reckte das Kinn, ruhiger Stolz lag plötzlich in ihrer Stimme. »Und dann, an einem klaren Wintermorgen wie diesem, war sie fort. Und als kurz darauf abermals die Abrissfelder in der Stadt aufbrachen und sich wie Tumore ausbreiteten, war es an mir , London etwas zu geben, an das es glauben konnte.«
    »Fil«, sagte Beth.
    »Er war das erste ausreichend kleine Kind, das meine Ratten zu finden vermochten. Sie trugen ihn auf ihren Rücken durch ein sorglos offen gelassenes Fenster. Doch erst in dem Moment, da ich ihn aus dem Tümpel der Synode zog, wurde Filius Viae wirklich geboren.« Die Erinnerung daran ließ sie lächeln.
    »Mater Viaes Substanz war noch immer darin, das Honorar der Synode für ihre Intervention, genug, um einem Kind den Abglanz ihrer Gestalt zu verleihen.«
    Die Eierschalenaugen musterten Beths granitgraue Haut. »Genug für mehr als eins, wie es scheint«, fügte sie hinzu, und ihr Lächeln wurde noch ein wenig breiter.
    Beth wollte etwas sagen, doch Gossenglas legte einen Kugelschreiberfinger auf ihre Lippen. »Still jetzt. Das hier ist es, was ich dir zeigen wollte.« Sie näherten sich einer niedrigen Nische, deren Wellblechdach von rostigen Schienenschwellen getragen wurde. Beth duckte sich und spähte hinein.
    Zwei gläserne Körper lagen eng umschlungen in der schläfrigen Umarmung zweier Liebender nach dem Sex. Der eine leuchtete in einem rußigen Orange, der andere in reinem Weiß. Ihr Licht vermischte sich und fiel auf die zerdrückten Dosen und alten Bettfedern in der Wand. Beth glaubte die Natriumitin zu erkennen, der Gossenglas das Leben gerettet hatte.
    »Begreifst du jetzt, was ein wenig Glauben vermag?«, flüsterte Gossenglas. »Von Geburt an hat man ihnen beigebracht, einander zu hassen, und doch sind sie hier. Sie haben Seite an Seite für ihre Göttin gekämpft, und nun liegen sie Seite an Seite, ganz für sich selbst. Wer weiß, womöglich haben wir bald sogar einen glitzernden Stall voller winziger Glühbirnen.« Ein breites Lächeln beherrschte jetzt ihre Züge; alle Wut schien vergessen. Sie winkte Beth, sich mit ihr zurückzuziehen.
    Gemeinsam bestiegen sie einen weiteren Grat und kletterten auf ein ausrangiertes Sofa. London lag unter ihnen, ein Meer von Dächern, das in der aufgehenden Sonne glänzte.
    Beth starrte mit leerem Blick hinaus auf die Stadt. Sie ahnte und fürchtete, worum der Müllgeist sie gleich bitten würde.
    »Sie werden jemanden brauchen, an den sie glauben können, wenn sie aufwachen, jemanden, der beenden kann, was Filius begonnen hat«,
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