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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
Autoren: Tom Pollock
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Abfall herankarrten, mit denen sie die Fundamente von Gossenglas’ Stadt nährten.
    Ihr Blick fiel auf eine Silhouette hoch oben auf einem der Grate, eine hagere Gestalt mit einer Eisenstange über der Schulter. Die Pose war ihr derart vertraut, dass Glas ins Taumeln geriet und die verschlungenen Würmer in ihrem Herzen einen Pulsschlag ausließen.
    Dann lächelte sie. »Ich hatte gehofft, du würdest kommen«, rief sie.
    Die Gestalt antwortete nicht, holte nur mit ihrer freien Hand aus und warf. Ein dunkler Fleck segelte durch die Luft. Glas hob den Arm, und das Ding landete fügsam wie eine Taube auf ihren Fingern: ein Papierflieger, sorgfältig gefaltet aus der Kopie einer Zeitungsnachricht.
    Als die hagere Gestalt schließlich den Hügel hinab auf sie zukam, faltete Gossenglas das Blatt auseinander und begann zu lesen.
    »Der Junge, der glaubte, sein Name wäre Filius Viae«, sagte Beth leise, »war nicht das Kind einer Göttin.« Sie näherte sich Gossenglas behutsam, mit der Wachsamkeit eines Jägers.
    Es war nicht zu erkennen, ob die aus Abfällen geformte Frau sie gehört hatte.
    »Wenn man das weiß, dann muss man sich fragen: Wer zum Henker in London hätte ihn davon überzeugen wollen, dass er es war?« Sie näherte sich dem Müllgeist, bis zwischen die Spitze ihres Speers und Gossenglas’ Pappkartonkehle kaum mehr ein Mottenflügel passte. Sie sprach vollkommen tonlos. »Vielleicht ja dieselbe Person, die ein Interesse daran hätte, das Gerücht zu streuen, dass ebendiese Göttin zurückkehrt? Vielleicht ja eine, die beim alten Eisen gelandet war, seit ihre Gebieterin sich vom Acker gemacht hatte, der man dann aber urplötzlich wieder zuhörte? Eine, die mit einem Mal wieder das Sagen hatte? Verrat’s mir, Glas, fühlt sich’s gut an, wieder bedeutend zu sein?«
    Aufmerksam studierte Gossenglas den Artikel. Dann, nach einer Weile, richtete sie die gebrochenen Eierschalenaugen auf Beth. »Michael hieß er also, ja?«, murmelte sie. »Hmm. Das wusste ich nicht.« Mit einem geschickten Ruck ihres Besenstiels stieß sie den Speer beiseite. »Schluss mit dem Theater, Miss Bradley«, sagte sie energisch und streckte einladend die Hand aus. »Gehen wir ein Stück?«
    Als Beth keine Anstalten machte, die Hand zu ergreifen, wandte Gossenglas sich ab und begann den Hang eines nahe gelegenen Müllbergs hinaufzusteigen. Eine Minilawine aus kaputten Türklinken, zerbrochenen Kassetten und faulen Bananenschalen löste sich unter ihren Schritten. »Ich möchte, dass du dir etwas ansiehst.«
    Einen Augenblick lang spürte Beth den fast unwiderstehlichen Drang, loszulaufen und ihr den Speer zwischen die Milchtütenschulterblätter zu rammen – doch das war nicht das, weswegen sie hier war. Den Lügner zu töten, tötet die Lüge nicht. Leise fluchend, weil ihr bewusst war, dass sie Glas die Initiative überlassen hatte, folgte sie ihr. Sie würde auf ihre Chance warten müssen.
    Das Deponielazarett entließ gerade seine wenigen letzten Patienten. Die Herzschläge von Lampenleuten schimmerten aus den höhlenartigen Nischen im Müll. Ratten wuselten mit Injektionsnadeln in den Mäulern hin und her. Vor einem Ganzkörperspiegel führte eine Wolke fliegender Käfer mit ungeheurer Präzision ein Skalpell, und auf der anderen Seite des Glases sah ein zäh wirkendes Mädchen dabei zu, wie sich auf ihrem entblößten Bauch langsam ein Schnitt öffnete.
    »Ich erzähl dir jetzt mal etwas über Mater Viae«, sagte Gossenglas. »Sie hatte eine Priesterschaft wie die Steinhäute nicht verdient, so wenig wie einen Diener wie mich oder einen Sohn wie Filius. Sie war feige .« Ihre Worte waren voller Schmerz, einem Schmerz, der zu Wut vergoren war. Sie kniete sich neben einen zitternden Bordsteinpriester, schlug mit einem Meißel ein Loch in seine Strafhaut und goss irgendeine balsamische Flüssigkeit hinein. »Schlafe sanft«, brummte sie mithilfe der summenden Fliegen in ihrer Kehle. »Schlafe tief. Und möge die Herrin dir bald deinen Tod gewähren.«
    Der junge Priester beruhigte sich sichtlich unter Glas’ Worten, und als sie kurz darauf weitergingen, glaubte Beth ihn bereits leise schnarchen zu hören.
    »Seinen Tod ?«, fauchte Beth zornig. »Wie kannst du ihnen das noch immer versprechen? Mater Viae hat ihre Tode, und keiner weiß, wann sie zurückkommt!«
    Gossenglas hob eine Pfeifenreinigeraugenbraue. » Ich weiß, wann«, erwiderte sie, »und du solltest es eigentlich auch wissen – ach komm schon, Miss Bradley, hast
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