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Süden und das heimliche Leben

Süden und das heimliche Leben

Titel: Süden und das heimliche Leben
Autoren: Friedrich Ani
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    R egen prasselte auf die Gartentische vor der offenen Tür. Kirchenglocken läuteten. Sonntagvormittag. Tabor Süden saß in einer Kneipe und fragte sich, wieso.
    Weder die fünf Männer an seinem Tisch noch die Frau hinterm Tresen hatten in der vergangenen Stunde Wesentliches zur Aufwertung seiner Anwesenheit beigetragen. Seine Chefin hatte ihm gestern den Auftrag erteilt, und er, ohne Not nüchtern, hatte zugestimmt, gleich am nächsten Tag ein Treffen zu arrangieren.
    Der nächste Tag war schneller heute, als Süden erwartet hatte. Und seit dem Aufstehen haderte er nicht nur mit sich, weil er an seinem freien Tag einen Termin vereinbart hatte. Er verzweifelte nicht nur fast an den ineinandertrudelnden Monologen, die er sich anhören musste. Was ihm am meisten zu schaffen machte, war der Anblick des Kaffeekännchens und der Tasse, die vor ihm standen wie das Geschirr eines gemeinen Gottes.
    In einem Gasthaus mit dem Namen »Charly’s Tante« zu sitzen und kein Bier zu trinken, erschien Süden wie die Vorstellung, er hätte damals als Ministrant in Unterhose und Unterhemd vor dem Altar knien müssen.
    Mehrmals hatte die Wirtin, deren blonde, kurios hochgesteckte Haare ihm – vermutlich als Folge seiner Abstinenz – wie ein verrutschter Zwiebelturm vorkamen, die Frage gestellt, ob er nicht, wie die anderen Männer, ein Helles oder ein Weißbier wolle. Er schüttelte jedes Mal den Kopf. Und er fragte sich, wieso.
    Welcher Anfall von Berufsethos zwang ihn, einen Kaffee zu trinken, der erst seinen Magen und dann seinen Darm ruinierte und anderswo wahrscheinlich zur Bekämpfung von Ehec -Bakterien eingesetzt wurde? Noch nicht einmal seinen kleinen karierten Schreibblock hatte er aus der Tasche gezogen. Das meiste, was er bisher an diesem Tisch über das Verschwinden der sechsundvierzigjährigen Kellnerin Ilka Senner erfahren hatte, stand in den Protokollen der Polizei. Den Rest hielt Süden für das übliche Getrommel von Zeugen, die sich aus der Savanne ihrer Phantasie zu Wort meldeten, in der Überzeugung, Geheimnisse und Wahrheiten zu verkünden.
    Zwölf Jahre bei der Vermisstenstelle der Kripo und vier in der Mordkommission hatten ihn das Zuhören gelehrt, das Weghören und das Doppelthören. Er kannte den Unterschied zwischen Lügen und Schwindeln, Lamentieren und Leiden und den zwischen Rhabarberkompott und Rhabarberkomplott. Vom selbstgemachten Nachtisch seiner Mutter hatte er als kleiner Junge nie genug bekommen, vom selbstgemachten Laberzeug, mit dem ihn manche Leute einzulullen versuchten, wurde ihm übel.
    »Sie sehen blass aus«, sagte Charlotte Nickl, genannt Charly, die Frau des Wirts. »Wollen Sie einen Schnaps?«
    Kurz vor einem erneuten Kopfschütteln sagte Süden: »Ein Bier.«
    »Na also.« Der Zwiebelturm neigte sich vor und zurück, und die Wirtin ging zum Tresen.
    Die fünf Männer sahen ihn an, wieder einmal. Im Grunde sahen sie ihn die ganze Zeit an, als wäre er ein Riesenspiegel und sie Balletttänzer auf der Probe. Alles, was er möglicherweise spiegelte, war blanke Ratlosigkeit, und alles, was sie verkörperten, waren die Gesetze der Schwerkraft. Vielleicht, dachte Süden, sollte er sich vor der Tür unter die grüne Markise stellen, die kühle Luft einatmen und an eine Frau denken oder zumindest an ein anderes Lokal. Vielleicht passten die Menschen und er heute einfach nicht zusammen. Abstand, hatte er einmal gelesen, sei die Seele des Schönen.
    »Sehr zum Wohl.« Die Worte hagelten auf seine Gedanken. Charlotte Nickl stellte ein blendend aussehendes helles Bier vor ihn hin und lächelte, wie Jesus gelächelt hätte, wenn die Kreuzigung abgesagt worden wäre. Sie schien erlöst zu sein. Süden war es auch.
    »Möge es nützen!« Er hob sein Glas. Alle hoben ihre Gläser. Die Wirtin eilte zum Tresen, holte ihre Weißweinschorle, und dann tranken sie und stellten ihre Gläser ab, und nur Charlotte behielt ihres in der Hand. Süden leckte sich die Lippen und hob den Kopf. Wie rauchende Apostel umringten ihn zwölf Augen.
    Er wusste nicht, was er sagen sollte, also breitete er die Arme aus, lehnte sich zurück, rief sein inzwischen perfekt eingeübtes Nicken ab, faltete die Hände im Schoß, schwieg eine Weile und beugte sich wieder zum Tisch, soweit sein Bauch es ermöglichte.
    Der Regen prasselte immer noch auf die Gartenmöbel und den Asphalt. Vögel zwitscherten sommerlich. Süden bildete sich ein, die Freude seines Blutes über das Bier wahrzunehmen.
    Momente unendlicher
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