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Maigret und die Unbekannte

Maigret und die Unbekannte

Titel: Maigret und die Unbekannte
Autoren: Georges Simenon
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    ERSTES KAPITEL
     
     
     
    Maigret gähnte und schob die Protokolle an den Rand des Schreibtisches.
    »So, unterschreibt das, Kinder, und dann könnt ihr schlafen gehen.«
    Die ›Kinder‹ waren wohl die drei hartgesottensten Burschen, mit denen die Kriminalpolizei seit einem Jahr zu tun gehabt hatte. Der eine von ihnen, der Ded6 hieß, sah wie ein Gorilla aus, und der schmächtigste, der ein blutunterlaufenes Auge hatte, hätte sich seinen Lebensunterhalt als Jahrmarktringer verdienen können.
    Janvier reichte ihnen die Papiere und einen Federhalter, und jetzt, da sie endlich klein beigeben mußten, machten sie keine Geschichten mehr, lasen nicht einmal die Protokolle ihres Verhörs durch und setzten mit angewiderter Miene ihre Namen darunter.
    Die Marmoruhr zeigte wenige Minuten nach drei, und die meisten Büros am Quai des Orfevres lagen in tiefem Dunkel. Schon seit langem hörte man kein anderes Geräusch mehr als ein fernes Hupen oder die Bremsen eines Taxis, das auf dem feuchten Pflaster ins Rutschen kam.
    Als sie am Tage vorher hierhergebracht worden waren, war in den Büros ebenfalls kein Mensch gewesen, weil es noch nicht neun Uhr war und die Arbeit noch nicht begonnen hatte. Aber auch da hatte es schon geregnet; ein feiner melancholischer Regen, der jetzt immer noch vom Himmel niederging.
    Insgesamt waren es mehr als dreißig Stunden, die sie hier, abwechselnd zusammen und getrennt, verhört worden waren, wobei Maigret und fünf seiner Mitarbeiter einander ablösten, um sie zur Strecke zu bringen.
    »Dummköpfe«, hatte der Kommissar gesagt, gleich als er sie zum erstenmal gesehen hatte. »Das wird lange dauern.«
    Mit eigensinnigen Dummköpfen hat man immer die meiste Arbeit. Sie glauben, sich aus der Schlinge ziehen zu können, wenn sie stumm bleiben oder irgend etwas antworten und sich dabei alle fünf Minuten widersprechen.
    Da sie sich für schlauer als die anderen halten, versuchen sie’s alle zunächst einmal mit der Dreistigkeit.
    »Wenn ihr glaubt, daß ihr mich kriegen werdet!«
    Seit Monaten machten sie die Gegend rings um die Rue Lafayette unsicher, und die Zeitungen nannten sie die Mauerbrecher. Dank einem anonymen Telefonanruf hatte man sie endlich fassen können.
    In den Tassen war noch ein Rest Kaffee, und auf einem Gaskocher stand eine kleine Emaillekaffeekanne. Alle hier im Raum sahen übermüdet und aschfahl aus. Maigret hatte soviel geraucht, daß seine Kehle ganz rauh war, und er wollte, sobald die drei Männer hinter Schloß und Riegel waren, Janvier vorschlagen, mit ihm irgendwo eine Zwiebelsuppe zu essen. Sein Schlafbedürfnis war ihm vergangen. Gegen elf Uhr hatte ihn plötzlich eine große Müdigkeit übermannt, und er war in sein Büro gegangen, um ein Weilchen einzunicken. Aber jetzt dachte er nicht mehr an Schlafen. »Vacher soll sie abführen.«
    Genau in dem Augenblick, da sie das Büro der Inspektoren verließen, läutete das Telefon. Maigret nahm den Hörer ab, und eine Stimme sagte: »Wer ist da?«
    Er runzelte die Brauen und antwortete nicht gleich. Am anderen Ende der Leitung fragte man darauf:
    »Jussieu?«
    Das war der Name des Inspektors, der eigentlich Nachtdienst hatte, aber Maigret hatte ihn schon um zehn Uhr nach Hause geschickt.
    »Nein, Maigret«, murmelte er.
    »Ach, ich bitte um Verzeihung, Herr Kommissar. Hier ist Raymond von der Zentrale.«
    Der Anruf kam aus dem anderen Gebäude, aus einem riesigen Raum, wohin alle Gespräche für das Überfallkommando zusammenlaufen. Sobald die Glasscheibe an einem der roten Melder, die überall in Paris angebracht sind, eingeschlagen wird, leuchtet auf einer Karte, die fast die ganze Wand bedeckt, ein Lämpchen auf, und ein Mann steckt einen Stöpsel in eines der Löcher auf dem Schaltbrett der Telefonanlage.
    »Zentrale.«
    Mal handelt es sich um eine Schlägerei, mal um einen widerspenstigen Säufer, mal um einen patrouillierenden Polizisten, der Hilfe braucht.
    Der Mann in der Zentrale steckt dann den Stöpsel in ein anderes Loch.
    »Ist dort das Revier in der Rue de Grenelle? Bist du’s, Justin? Schick einen Wagen zum Quai vor das Haus Nr. 210.«
    In der Zentrale machten gewöhnlich zwei oder drei Nachtdienst, und bestimmt kochten sie sich auch Kaffee. Wenn es sich um etwas Schwerwiegendes handelte, benachrichtigten sie die Kriminalpolizei. Aber auch sonst riefen sie manchmal beim Quai an, um sich mit einem Kameraden zu unterhalten. Maigret kannte Raymond.
    »Jussieu ist schon fort«, sagte er. »Hattest du ihm
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