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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod
Autoren: Ole Kristiansen
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frisches Räucherstäbchen an. Sie nannte Seger immer beim Vornamen, und Jule vermutete insgeheim, dass die beiden einmal mehr als nur Therapeut und Patientin gewesen sein mussten – oder es vielleicht sogar immer noch waren. Auf entsprechende Erkundigungen hatte Caro bisher immer nur mit einem geheimnisvollen Lächeln reagiert.
    »Er ist schrecklich schlau und furchtbar direkt. Aber seine Sache macht er trotzdem super. Nicht wahr, Schatz?«
    Caro redete mit ihrer Vogelspinne Thekla, die in einem Glasterrarium über der Wohnzimmerheizung hauste.
    Jule gab sich keinerlei Illusionen hin. Caro war ziemlich versponnen, aber nichtsdestotrotz ungemein liebenswert. Jule hatte keinen Zweifel daran, wie sich Caro entwickeln würde: In vierzig oder fünfzig Jahren würde sie die nette, aber leicht verschrobene Tante aus der großen Stadt sein, die bei Hochzeiten und Taufen allen anwesenden Gästen aus dem Kaffeesatz, der Hand oder sonst irgendetwas las. Jule wünschte sich, sie hätte auch nur den Hauch einer Ahnung, wie es um ihre Rolle im Alter bestellt war.
    »Was guckst du so traurig?« Caro legte den Kopf schief. »Was ist denn los?«
    »Ach nix.« Jule schielte rasch zur hohen Decke der Altbauwohnung hinauf. Ihr war zum Heulen zumute. »Nix.«
    Caro kniete sich neben sie und streichelte ihr sanft das Knie. »Ist es wegen morgen?«
    »Kann sein«, murmelte Jule.
    »Das ist doch toll, dass dich deine Firma da rausschickt.« Caro wand ihr das Glas aus der Hand und schenkte großzügig nach. »Ein bisschen wie Nachhausekommen. Willkommen im Nirgendwo, wo noch echte Männer in Gummistiefeln und Parka unterwegs sind.«
    Jule gestattete sich ein zaghaftes Lächeln. Caro hatte ja recht. Sie hatten beide ein vergleichsweise trostloses Jugenddasein im Speckgürtel gefristet, der sich rings um Hamburg zog – Jule in Pinneberg, und Caro, die es noch schlimmer getroffen hatte, ausgerechnet in Buxtehude. Aus der Perspektive eines waschechten Hamburgers hätten sie genauso gut aus der finstersten Einöde stammen können. Aus Mecklenburg-Vorpommern. Oder eben aus Nordfriesland, wo jetzt dieser Windpark gebaut werden sollte.
    »Du wirst schon sehen. Das wird halb so schlimm, wie du denkst«, sagte Caro. »Und Lothar hat dir doch auch grünes Licht für einen Start in eine echt positive neue Lebensphase gegeben, oder?«
    »Hm«, machte Jule bloß. Sie wollte nicht über das reden, was ihr morgen bevorstand.
    »Weißt du, was?«, fragte Caro.
    »Was?«
    »Ich leg dir die Karten, Mäuschen.«
    »Muss das sein?« Jule verzog das Gesicht. »Mir ist ehrlich gesagt gerade nicht nach Blicken in die Zukunft.«
    »Klar.« Caro vollführte eine wegwerfende Geste. »Kann ich verstehen. Wo in deiner Gegenwart doch momentan alles so rosig ist.«
    Jule funkelte Caro an. Was gab es dazu zu sagen?
    Caro spitzte die Lippen und trommelte mit den Fingerspitzen auf dem Couchtisch. »Okay, genug von heiklen Themen, Schwester Oberin. Soll ich dir nun die Karten legen oder nicht?«

8
     
    »Augen zu!«, mahnte Caro.
    »Ja, ja.« Jule hatte sich in ihr Schicksal ergeben. Wenn sie nicht von der halben Flasche Wein beschwipst gewesen wäre, hätte sie vielleicht mehr Gegenwehr gezeigt. »Ich hab die Augen doch zu.«
    Caro, die auf der anderen Seite des Couchtischs im Schneidersitz hockte, fasste nach Jules Hand und führte sie zum Kartenstapel. »Zieh eine.«
    »Und jetzt?«
    »Jetzt drehst du sie um und legst sie hin.«
    Der Kartenrand schabte über die Rillen im Tischläufer.
    »Kann ich die Augen wieder aufmachen?«, fragte Jule ungeduldig.
    »Noch nicht«, meinte Caro hastig. »Erst, wenn ich es dir sage.«
    Jule seufzte. Die flackernde Flamme der dicken roten Kerze, die Caro angezündet hatte, tanzte als heller Schemen auf der Innenseite ihrer Lider.
    Ein Rascheln ließ Jule aufhorchen. Was war das? Thekla in ihrem Terrarium? Eigentlich waren Spinnen traditionell doch eher leise Tiere. Außerdem hatte Jule den Eindruck, dieses Rascheln schon öfter gehört zu haben.
    »Augen auf«, befahl Caro. »Das bist du.« Sie tippte auf die Karte, die Jule gezogen hatte. Vor einer wogenden See war eine Frau in blauen Roben abgebildet, die eine Krone mit geschwungenen Hörnern auf dem Kopf hatte und eine altertümliche Schriftrolle auf dem Schoß hielt. »Die Hohepriesterin.«
    »Vielen Dank.«
    »Du musst das schon ein bisschen ernst nehmen, ja?«, beschwerte sich Caro.
    »Ist das eine gute oder eine schlechte Karte?«
    »Sie liegt aufrecht«, erläuterte Caro.
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