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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod
Autoren: Ole Kristiansen
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streiten, ob wir hier nicht über die Spätfolgen eines Traumas reden. Ihre Angst hat Sie in den letzten Jahren einiges gekostet.« Er begann, Jules Einbußen an den Fingern abzuzählen. »Sie haben sich komplett von Ihren Eltern abgeschottet.«
    Richtig. Ihre Eltern hatten nie verstanden, was der Unfall in ihr ausgelöst hatte, obwohl sie beide auf ihre jeweils eigene Art versucht hatten, ihr zu helfen. Ihr Vater mit langen Ausführungen über die glasklare rechtliche Situation des Hergangs, die Jule in ihrer Kaltblütigkeit angesichts des Verlusts eines Menschenlebens nachhaltig entsetzt hatten. Ihre Mutter in Form von ausschweifenden Predigten darüber, wie man es sich nun einmal nicht aussuchen konnte, welche Prüfungen einem Gott und das Schicksal auferlegten. Wie man nur darauf vertrauen musste, dass selbst das größte Leid in einem für Menschen leider nicht nachzuvollziehenden Plan letztlich trotzdem einen Sinn besaß. Beides wollte Jule nicht einleuchten, es kam ihr zu ungerecht und zu resignierend vor. Und als ihre Eltern eines Tages beschlossen hatten, Jule solle nun endlich wieder ihr Leben in die Hand nehmen, ihr ewiges Leiden sei nicht mehr mit anzusehen, war Jule kurzerhand von zu Hause ausgezogen. Seither lebte sie ganz auf sich gestellt und meldete sich kaum noch bei ihnen.
    »Sie haben Probleme, eine funktionierende dauerhafte Partnerschaft zu führen.«
    Ebenfalls richtig. Ihr letzter Freund hatte sich von ihr getrennt, weil sie bei seinem Vorschlag, doch endlich zusammenzuziehen, vollkommen ausgerastet war. Wie lange war das jetzt schon wieder her? Waren es wirklich schon fünf Jahre, seit Matze türenknallend auf Nimmerwiedersehen aus ihrem Leben verschwunden war? Das Einzige, was ihr von ihm geblieben war, war der blöde Ring, mit dem sie ständig spielte. Sie brachte es nicht übers Herz, ihn abzunehmen und in irgendeiner Schachtel zu verstauen oder gar wegzuwerfen. Vielleicht war das ein Ausdruck ihrer masochistischen Art, da sie sich damit wieder und wieder in Erinnerung rief, was für ein toller Mann Matze eigentlich gewesen war. Und welche Opfer sie auf sich nahm, um nach ihren eigenen Vorstellungen und Regeln Buße zu tun. Welches Recht hatte sie, jemals glücklich zu werden, da sie doch einem anderen Menschen genau diese Chance geraubt hatte?
    »Sie tun sich schwer, ausreichend Vertrauen zu anderen aufzubauen, um mit ihnen auch nur ernsthaft befreundet zu sein.«
    Treffer Nummer drei. Aber was konnte sie dafür, dass die meisten Menschen in ihrem näheren Umfeld eindimensionale Gestalten waren? Die würden sie doch fallen lassen, ehe sie zu Ende gesprochen hätte. Die Wahrheit über sich konnte sie solchen Leuten auf keinen Fall erzählen.
    »Wollen Sie jetzt auch noch Ihre Karriere aufgeben?«
    Nein, das wollte sie selbstverständlich nicht. Jule schluckte. Ihr Mund war so trocken, dass ihr die Zunge am Gaumen klebte. Sie kramte hektisch in ihrer Handtasche nach einem Bonbon, beendete die Suchaktion aber abrupt, straffte die Schultern und schaute Seger ins Gesicht: »Was, wenn es wieder passiert?«
    Seger verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Seine Augen verrieten, dass er genau wusste, warum sie diese Frage stellte. Es war schließlich nicht das erste Mal, und sie brauchte jetzt die beruhigende Wirkung, die in der Wiederholung unnachgiebig vorgetragener, vertrauter Argumente lag. »Statistisch gesehen ist es höchst unwahrscheinlich, dass Ihnen so etwas noch einmal zustößt. Erinnern Sie sich noch an die Artikel, die ich Ihnen zu Weihnachten mitgegeben habe?«
    »Ja.«
    »Na also.« Er schürzte die Lippen. »Wenn Sie S-Bahn- oder Lokführerin wären, müsste ich Ihnen etwas anderes sagen. Dann hätten Sie damit zu rechnen, dass sich ein solches Unglück für Sie wiederholt. Sie sind aber keine Lokführerin. Trotzdem bestehen da gewisse Ähnlichkeiten. So wie ein Lokführer nicht verhindern kann, dass sich jemand ausgerechnet vor seinem Zug auf die Gleise wirft, tragen Sie keine Schuld an dem, was damals gewesen ist. Hören Sie auf, die Verantwortung für das Handeln anderer übernehmen zu wollen. Angenommen, ich ziehe jetzt diese Schublade auf, hole eine Pistole heraus und schieße mir damit in den Kopf. Müssen Sie sich dann dafür Vorwürfe machen? Müssen Sie nicht. Es wäre meine Entscheidung, auf die Sie keinerlei Einfluss haben.« Er senkte die Stimme zu einem Raunen. »Jule, es war ein Unfall. Sie konnten nichts dafür. Übernehmen Sie das Projekt.«
    Jule versuchte, tief
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