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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod
Autoren: Ole Kristiansen
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Stirn.
    Was sah er in ihr? Wahrscheinlich das, was die meisten in der Firma in ihr sahen. Die kühle Karrierefrau, die entschlossen ihren Weg ging. Die große Blonde, die penibel auf ihr Äußeres achtete und dem Vernehmen nach noch zu haben war, weil ihr niemand gut genug war. Darf ich vorstellen: Miss Perfect. Wann war sie nur so geworden? Früher hätte sie auf eine wie sie verächtlich herabgesehen, aber heute entsprach dieses Bild der Wahrheit. Jule hatte gelernt, die Verletzungen, die sie in sich trug, vor anderen zu verbergen. Es hatte schließlich niemanden zu interessieren, dass sie in ihrem Inneren ganz anders war. Jemand, der nie verwunden hatte, das Leben eines anderen Menschen ausgelöscht zu haben.

2
     
    »Wir haben hier die einmalige Gelegenheit, etwas noch nie Dagewesenes aufzubauen.« Norbert Schwillmer hatte jenes gierige Funkeln in den Augen, das ihn für seine loyalsten Mitarbeiter als Visionär auswies. Alle anderen hatten gelernt, es als Zeichen dafür zu deuten, dass ihnen gleich eine durch und durch wahnwitzige Idee als genial verkauft werden würde. »Ich nehme an, du bist da ganz bei mir, Jule.«
    »Natürlich.« Jule hatte sich ihre Irritation über das überraschend abgesagte Marketing-Meeting nicht anmerken lassen. Als Schwillmer bei ihr angerufen hatte, um sie zu sich ins Büro zu bestellen, war sie ihrer üblichen Routine vor unangekündigten Terminen gefolgt: ein schneller Gang zur Toilette, ausgiebiges Händewaschen inklusive einer halben Minute kaltem Wasser über die Pulsadern, und noch ein rasches Nachziehen des Lidstrichs. So fühlte sie sich den unbekannten Anforderungen gewachsen, die auf sie zukamen. Was sie von dem Vieraugengespräch mit ihrem Chef genau zu erwarten hatte, stand allerdings in den Sternen. Das einzig Berechenbare an Schwillmers Führungsstil war schließlich seine Unberechenbarkeit. Die Zahl der festen Regeln, an die sich der Mann mit den grau melierten Schläfen und dem Pferdegesicht hielt, war äußerst begrenzt. Eine davon war die, unbedingt darauf zu bestehen, dass sich sämtliche Beschäftigten von Zephiron duzten. »Es gibt kein Sie im Wort Team«, begründete Schwillmer diese Maßnahme gern. Obwohl es ihr jedes Mal förmlich auf der Zunge brannte, hatte Jule bisher auf den Hinweis verzichtet, dass im Wort Team allerdings auch keine Spur von einem Du zu finden war.
    »Schön.« Schwillmer lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Sehr schön. Das wird eine tolle Sache. Ein ganz großes Ding.« Er fixierte sie ernst, und Jule tat ihm den Gefallen, als Erste zu blinzeln. Das war die zweite Konstante in seinem Geschäftsgebaren: billige Psychospielchen. Sogar sein Büro war unter diesen Gesichtspunkten eingerichtet: Sein monströser Schreibtisch stand direkt vor einer breiten Fensterfront, damit hinter ihm nichts war als das Panorama der wuchtigen Backsteinbauten der Speicherstadt. Als wollte Schwillmer jedem, der hier Platz nahm, mit diesen ehrwürdigen Zeugnissen des Hamburger Reichtums zeigen, dass es auf dem Windenergiemarkt im Allgemeinen und bei Zephiron im Besonderen nicht um Peanuts ging. »Von diesem Projekt hängt unsere Zukunft ab.«
    »Was ist mit Andreas?«, fragte Jule und zupfte eine Falte aus dem Rock ihres stahlblauen Kostüms. »Ist er nicht dafür zuständig?«
    Einen kurzen Moment schnitt Schwillmer eine mitleidige Grimasse, um gleich darauf seine Unschuldsmine aufzusetzen. »Jetzt ist Andreas auf jeden Fall nicht mehr dafür zuständig.«
    Er rollte mit dem Sessel ein Stück nach vorne, wahrscheinlich, um ihre Beine näher im Blick zu haben. Jule störte sich nicht daran und beschrieb mit der Schuhspitze kleine Kreise, um ihre Beine noch mehr in Szene zu setzen. Die Erfahrung zeigte, dass es bei Neandertalern in Nadelstreifen besser war, seine Reize offensiv einzusetzen, anstatt sich den Ruf einer verklemmten Emanze einzuhandeln.
    »Ich brauche doch meine beste Frau für dieses Projekt«, fuhr Schwillmer fort. »Alles andere wäre der pure Irrsinn.«
    »Danke«, erwiderte Jule und bereitete sich innerlich auf den nächsten durchschaubaren Trick vor, den er sich in einem überteuerten Seminar für Mitarbeiterführung antrainiert hatte.
    »Oder fühlst du dich damit überfordert?«
    Da war er auch schon. Erst loben, dann sticheln. Jule kannte viele Frauen, die damit nicht umgehen konnten, weil sie sich ständig fragten, was die kleinen Spitzen sollten und ob damit irgendein ernst zu nehmendes Urteil über ihre Kompetenzen und Fähigkeiten
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