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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod
Autoren: Ole Kristiansen
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Prolog
     
    Wo war sie?
    Sie erwachte in völliger Finsternis, mit einem lauten Dröhnen in den Ohren und dem unheimlichen Gefühl, sich in rasend schneller Bewegung zu befinden.
    Träge wälzten sich die Gedanken durch ihren Verstand. Hatte er sie lebendig begraben? Nein, sie konnte nicht in einem Sarg unter der Erde liegen. Ein vergrabener Sarg bewegte sich nicht, und unter der Erde wäre doch alles still, und das sonderbar vertraute Dröhnen stammte nicht aus ihrem Kopf, sondern umfing sie von allen Seiten.
    Benommen stellte sie fest, dass ihre Arme unter ihrem Rücken eingequetscht waren. Sie wollte sie darunter hervorziehen, doch ihre Handgelenke schienen miteinander verwachsen. Er hatte sie gefesselt!
    Ein verzweifelter Schrei raste ihr die Kehle hinauf, aber ihr Mund öffnete sich nicht. Mühsam drückte sie die Zungenspitze zwischen den Lippen hindurch. Ihr Knebel schmeckte stechend bittersüß und weckte eine alte Erinnerung, wie sie als Kind mit zwei Nachbarsjungen in einem Gebüsch hinterm Haus an einer Dose Pattex geschnüffelt hatte. Als sie die Finger nach innen krümmte, schabten ihre Nägel über ein straff gespanntes Material. Noch mehr Klebeband, und auch das, was sie daran hinderte, ihre angewinkelten Beine voneinander zu lösen, musste Klebeband sein.
    Sie bäumte sich auf und stieß mit der Stirn gegen die Grenzen ihres engen Kerkers. Das Dröhnen nahm ab, und wie von unsichtbaren Händen wurde sie ein winziges Stück auf die Seite gedreht, ehe das Geräusch wieder an Lautstärke gewann, ein kurzes Aufheulen, und sie spürte einen Druck in der Magengrube, der ihr sonderbar vertraut vorkam. Sie rollte zurück in ihre ursprüngliche Position, der Druck ließ nach. Als sich der Vorgang wiederholte, dämmerte es ihr. Sie wälzte sich auf die Seite und presste die Wange gegen den sacht bebenden Untergrund. Kratziger Teppich, der nach Gummi und Öl roch. Ja, das war es! Sie war in einem Auto, gefangen im Kofferraum!
    Ein blasser Funken Hoffnung glomm in ihr, da sie nun eine Vorstellung davon hatte, wo sie sich überhaupt befand. Er erstarb, als ihr die Bedeutung dieser Erkenntnis bewusst wurde: Er brachte sie fort, weit weg, um etwas Schreckliches mit ihr anzustellen, und die Fesseln und der Knebel waren erst der harmlose Auftakt.
    Tränen stiegen ihr in die Augen. Aus nackter Angst, aber auch aus Zorn auf sich selbst und ihre Gutgläubigkeit. Verdammt, warum hatte sie kein Taxi genommen? Warum war sie auf sein Angebot eingegangen, sie nach Hause zu bringen? Sie hätte die Schuld auf die fünf oder sechs Wodka-Red Bull schieben können, die sie getrunken hatte. Vielleicht auch auf die Aussicht, der eigentlich todlangweilige Abend in der Scheunendisco hätte am Ende doch noch eine vielversprechende Wendung nehmen können. Auf die Vorfreude, morgen Kiki und Vanessa anzurufen und ihnen mitzuteilen, was für ein überraschend guter Fang ihr noch gelungen war, nachdem die beiden schon um halb eins die Segel gestrichen hatten.
    Aber das war es alles nicht. Seine Augen waren schuld gewesen. Seine zuerst scheuen Blicke, die mit jedem Meter, den er sich an der Bar an sie herangetastet hatte, frecher geworden waren. Wie konnte sie nur so dumm gewesen sein, es für ein Zeichen freundlicher Aufmerksamkeit zu halten, dass er gleich einen Drink für sie parat hatte.
    Ihr wurde mit einem Mal speiübel. Sie verkrampfte. Sie musste ihren Mageninhalt unbedingt bei sich behalten, denn wenn ihr das nicht gelang, würde sie ersticken, und obwohl ihr eine leise Stimme zuflüsterte, dass dies noch einen gnädigen Ausweg aus ihrer Situation darstellte, war sie nicht bereit, ihren letzten Funken Hoffnung auf ein gutes Ende aufzugeben. Vielleicht war doch alles nur ein grober, idiotischer Scherz? Und wenn nicht, dann würde vielleicht in letzter Sekunde doch noch jemand auftauchen, der ihr helfen konnte. Ein Spaziergänger, die Polizei, irgendjemand, bitte!
    Ihre Angst schlug in wilde Panik um. Sie warf sich hin und her, und es gelang ihr irgendwie, sich so herumzuwälzen, dass sie gegen die Rückwand des Kofferraums prallte. Irr begann sie, daran zu kratzen, bis ihr ein Nagel abbrach. Der jähe Schmerz führte ihr die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens vor Augen. Aus. Es war aus und vorbei. Jetzt rannen ihr die Tränen heiß über die Wangen.
    Sie würde morgen Kiki und Vanessa nicht anrufen. Sie würde niemanden mehr anrufen. Sie würde sich auch nie mehr mit Papa darüber streiten, ob der Ausschnitt ihres Oberteils zu tief
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