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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod
Autoren: Ole Kristiansen
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durchzuatmen. Es fühlte sich an, als hätte sich eine stählerne Klammer um ihre Brust gelegt. »Es ist zu viel. Die Strecke ist zu weit.«
    »Die Strecke zu Ihrem neuen Einsatzort?«, hakte Seger nach.
    »Ja.«
    Das Mitgefühl auf seinen groben Zügen milderte die Ironie in seinen nächsten Worten. »Raus mit der Sprache. Wohin müssen Sie fahren? Über welche unvorstellbaren Dimensionen reden wir denn?«
    »Odisworth. Knapp zwei Stunden.« Jule starrte auf das Ziffernblatt der Standuhr in der Ecke. »Das ist viel zu lange.«
    Segers buschige Brauen hoben sich. »Odisworth?«
    »Kennen Sie es?« Jule ergriff dankbar die Gelegenheit, das Thema von der eigentlichen Fahrt auf das Ziel zu wechseln. »Sind Sie schon einmal da gewesen?«
    »Nicht ablenken, Jule, ja?«, rügte Seger sie. »Okay«, sagte er ruhig. »Ich kann Ihnen Ihre Entscheidungen letztlich nicht abnehmen. Ich kann Ihnen nur meine persönliche Einschätzung geben, ob Sie in der Lage sind, die nächste Hürde auf Ihrem Weg zu nehmen. Und das sind Sie. Denken Sie immer daran, welchen Merksatz wir schon ganz am Anfang entwickelt haben.«
    »Mach ich«, entgegnete Jule ausweichend.
    »Sagen Sie es«, forderte er sie auf. »Sprechen Sie es aus.«
    Jule tat ihm den Gefallen. »Meine Angst gehört zu mir, aber ich bin nicht meine Angst.«
    »Wenn wir uns das nächste Mal sehen«, sagte Seger zufrieden und stand auf, »haben Sie den unumstößlichen Beweis, dass diese These stimmt.«
    »Entweder das«, dachte Jule, als sie ihm die Hand schüttelte. »Oder ich habe noch jemanden auf dem Gewissen.«

6
     
    Odisworth.
    Ein Ort, den Lothar Seger am liebsten vergessen hätte. Zu viel Schmerz war damit verbunden. Dieser Ort war das Sinnbild dafür, dass selbst ein Mann wie er – ein Mann, der nach außen hin ganz in seiner Rolle als Helfer und Heiler aufging – nicht davor gefeit war, grausame Fehler zu begehen, die sich nicht mehr rückgängig machen ließen, ihn für den Rest seines Lebens quälen würden und die dem Tod Tür und Tor öffneten.
    Er blieb lange sitzen, nachdem Jule Schwarz sein Behandlungszimmer verlassen hatte, den Kopf in die Hände gestützt, die Augen geschlossen. Hätte er sie warnen sollen? Wäre das nicht sogar seine Pflicht gewesen? Vielleicht, aber wie konnte er dieser Frau, die sich Hilfe suchend an ihn gewendet hatte, um ihre Angst zu besiegen, etwas anvertrauen, das nur noch schlimmere Ängste in ihr auslösen würde? Etwas, worüber er nicht einmal mit dem Menschen sprach, der als später Segen in sein Leben getreten war und dem er ansonsten mit radikaler Offenheit begegnete?
    Odisworth.
    Sie war aus Odisworth gekommen, und nun war sie fort. Manchmal – wenn er allein war oder kurz vor dem Einschlafen – hörte er immer noch ihre Stimme. Ganz klar, als würde sie direkt hinter ihm stehen oder neben ihm liegen. Als bräuchte er sich nur umzudrehen, um sie zu sehen, oder nur die Hand auszustrecken, um sie zu berühren. Doch jedes Mal ging seine Hand ins Leere.
    Odisworth.
    Er war lange nicht mehr dort gewesen, aber er wusste, dass er dorthin zurückkehren würde. Er musste zurückkehren.
    Er nahm den Kopf hoch und schaute auf den Stuhl, auf dem Jule Schwarz gesessen hatte. Auf dem auch sie gesessen hatte. »Es tut mir leid«, flüsterte er in die anklagende Stille hinein. »Es tut mir so unendlich leid.«
    Er zog die Schublade an seinem Schreibtisch auf, in der er jenen winzigen Teil von ihr aufbewahrte, den sie bei ihm zurückgelassen hatte und in dem er immer wieder aufs Neue Trost und Grauen zugleich fand.
    Sie war fort. Er hatte sie umgebracht.

7
     
    »Das hat er gesagt?« Caro machte ein grimmiges Gesicht und zupfte an einer Strähne ihres langen glatten Haars.
    »Ja. Ich soll ruhig meine kleinen Spielchen mit ihm treiben.« Jule nippte nickend an ihrem Rotwein und zeigte auf die Stereoanlage, die in Zeiten von iPods noch rückständiger wirkte, als sie es bestimmt auch schon vor zehn Jahren getan hatte. »Können wir das leiser drehen? Sei mir nicht böse, aber ich habe es satt, bei meiner Beichte gegen tibetanische Mantras anzuschreien.«
    »Mongolischer Kehlgesang«, berichtigte sie Caro und stampfte auf ihrem Weg zur Anlage einen Rhythmus auf den Dielen. Das sonderbar schallende Lärmen – wie wenn ein zu großes Kind mit tief verstellter Stimme durch eine Klopapierrolle brabbelte – wurde zu einem gerade noch erträglichen Hintergrundgeräusch reduziert.
    »Ja, ja, der Lothar«, sinnierte Caro und zündete ein
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