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Olivers Versuchung

Olivers Versuchung

Titel: Olivers Versuchung
Autoren: Tina Folsom
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    Der Hunger hatte seine Klauen in ihn gekrallt. Er kämpfte gegen den Drang an, der ihn beherrschte, kämpfte gegen das Bedürfnis, das ihn wie einen Süchtigen auf Entzug zittern ließ. Er hätte nie gedacht, dass es mit solchen Schmerzen verbunden war, und dass es so schwer war zu widerstehen, doch der Gedanke an Blut beherrschte jede Minute seines Daseins. Selbst im Schlaf träumte er von pulsierenden Adern, von warmem Blut, das noch die Lebenskraft eines Menschen enthielt, und davon, seine Reißzähne in ein lebendiges, atmendes Wesen zu schlagen. Aber das Schlimmste war, dass er von der Macht träumte. Von der Macht über Leben und Tod.
    Mit einem heftigen Schütteln versuchte Oliver, sich von diesem Gedanken zu befreien. Aber wie in den meisten Nächten konnte er seine Blutgier und sein unersättliches Verlangen nicht abschütteln. Quinn, sein Erschaffer, hatte ihm gesagt, dass es mit der Zeit nachlassen würde, aber sogar nach zwei Monaten als junger Vampir war er immer noch so gierig nach frischem Blut wie in der ersten Nacht nach seiner Wiedergeburt.
    Während er sich in seinen langen dunklen Mantel hüllte und ein sauberes Taschentuch in die Manteltasche schob, warf er einen Blick zurück auf sein Zimmer. Dank seines Erschaffers hatte er noch nie so komfortabel wie jetzt gelebt. Quinn und seine Frau Rose hatten ihm angeboten, bei ihnen einzuziehen, nachdem sie sich ein großes Haus in Russian Hill gekauft hatten. Dies war ein Viertel von San Francisco, in dem es förmlich nach altem Geld stank.
    Hätte er ein Mitspracherecht gehabt, dann hätte er die lebendige junge Gegend südlich der Market Street gewählt. Diese hatte sich in den letzten zwei Monaten zu seinem Jagdgebiet entwickelt. Wann immer er Blut brauchte, suchte er unter den Partygängern dort oder im Mission Bezirk nach einem geeigneten Opfer, aber oft schaffte er es nicht einmal bis dorthin.
    Wenn er seinem Blutdurst erlaubte, zu groß zu werden, und seine Mahlzeit zu lange hinauszögerte, um sich zu beweisen, dass er stärker war als der unsichtbare Feind in seinem Inneren, dann schaffte er es kaum ein paar Schritte vor seine Haustür, bevor er einen ahnungslosen Nachbarn angriff.
    Er hatte versucht, sein Leiden, so gut er konnte, vor allen, die ihm nahestanden, zu verbergen, aber sie wussten es trotzdem. Wenn einer seiner Freunde oder Kollegen ihn anblickte, konnte er es ihnen ansehen: Sie dachten, dass er nicht einmal versuchte, dem Drang, das Blut eines Menschen zu nehmen, zu widerstehen. Sie glaubten, er suchte den einfachsten Weg, obwohl er doch in Wahrheit jede Nacht mit seinem inneren Selbst kämpfte. Niemand sah den Aufruhr, der in ihm tobte, oder die wilden Schlachten, die er gegen sich selbst austrug.
    Niemand war Zeuge, wie er diese Schlachten verlor und der unerbittlichen Forderung des Teufels in sich nachgab. Wenn dies passierte, war er alleine. Verloren. Ohne Führung.
    In dem Wissen, seine Jagd nicht länger hinauszögern zu können, schritt Oliver die Treppe des alten Hauses, das um die Jahrhundertwende erbaut worden war, hinab. Trotz dessen Alter hatte das Gebäude nichts Stickiges an sich. Quinn und Rose hatten sich große Mühe gegeben, das Haus mit einer Mischung aus antiken und modernen Möbeln einzurichten und hatten es in einen Ort einladender Wärme verwandelt. Ein wahres Zuhause. Etwas, das er noch nie zuvor gehabt hatte.
    Er fühlte sich undankbar, weil er wusste, dass er gegen die Wünsche seines Erschaffers handelte. Quinn hatte ihm alles gegeben, was er sich nur wünschen konnte: ein sicheres Zuhause, emotionale Unterstützung, eine Familie. Sein Job bei Scanguards, wo er mehrere Jahre lang als persönlicher Assistent des Besitzers gearbeitet hatte, hatte sich nach seiner Verwandlung geändert. Und war jetzt sogar noch besser: Obwohl er es geliebt hatte, direkt für Samson, den mächtigen und moralisch integren Vampir, der Scanguards aufgebaut und in eine nationale Sicherheitsfirma verwandelt hatte, zu arbeiten, bevorzugte er nun doch seinen neuen Titel – Bodyguard.
    Obwohl er bereits die Bodyguard-Ausbildung bei Scanguards durchlaufen hatte, als er noch ein Mensch war, hatte er wieder fast ganz von vorne beginnen müssen. Als Vampir wurde er einer anderen Sparte zugeordnet, einer, die die gefährlichsten Einsätze übernahm. Er blühte bei dem Job auf und liebte jede Sekunde davon. Aber das machte es noch schwerer, mit seinen Schuldgefühlen umzugehen. Wie konnte er jemals ein so guter Leibwächter werden wie
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