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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod
Autoren: Ole Kristiansen
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und sie viel zu aufreizend geschminkt war. Sie würde nie mehr darüber lachen, wenn Oma sie eindringlich warnte, sie solle darauf achten, bei dieser oder jener Party nicht ihre Würde zu verlieren. Sie würde nie mehr Mama damit vertrösten, nächste Woche ganz bestimmt damit anzufangen, Bewerbungen für eine Stelle als Arzthelferin zu schreiben. Sie würde sterben.
    Plötzlich hielt der Wagen an, ihr Herz begann zu rasen, sie wimmerte, versuchte, um sich zu schlagen, zu treten, wand sich hin und her. Dann erstarrte sie. Das sanfte Zischen des Hydraulikgestänges am Kofferraumdeckel verschmolz mit einer fröhlich gestellten Frage: »Wollen wir spielen?«

1
     
    Langes, blondes Haar, das unter einem Fahrradhelm hervorquoll. Blut, das den Schnee rot färbte. Weit aufgerissene Augen voller Schmerz und Verwunderung.
    Die immer gleichen Bilder schossen Jule Schwarz durch den Kopf, wieder und wieder, wie eine Endlosschleife.
    »Woran denkst du gerade?«, fragte sie der hagere Mann hinter dem Steuer, während er ohne Blinker die Spur wechselte, um einem Bus Platz zu machen, der sich aus einer Haltebucht zurück in den morgendlichen Berufsverkehr einfädelte.
    »An das Meeting nachher«, log sie Klaus an.
    »Ist es was Ernstes?« Er schlug den besorgten Ton eines Arbeitnehmers an, der befürchtete, seine Kollegin wisse schon, wem als Nächstes gekündigt würde.
    »Im Gegenteil.« Sie hoffte, dass er nicht bemerkte, wie sie die Finger fester um den Haltegriff an der Beifahrertür schloss. »Wir wollen festlegen, wie viele neue Leute wir im Marketing brauchen.« Sie zwang sich, den Blick von der Straße abzuwenden, und richtete ihn auf die braungraue Fassade des Hauptbahnhofs. Sofort schlug ihr Herz schneller. »Mach dir mal keine unnötigen Sorgen. Der Laden brummt.«
    Klaus atmete hörbar auf. Er war eben vorsichtig. Oder ein echter Hasenfuß, wie es viele der anderen Ingenieure aus seiner Abteilung ausdrückten. Jule störte das nicht. Genau genommen war es sogar der Grund, warum sie es überhaupt wagte, bei ihm im Auto zu sitzen.
    Vor drei Monaten erst hatte sie auf Drängen ihres Therapeuten Klaus’ Bitten und Betteln nachgegeben. Es stimmte ja auch, dass sie beide von der Fahrgemeinschaft profitierten. Klaus, der fast bei ihr um die Ecke wohnte, konnte jetzt davon träumen, dass er eines Tages während der kurzen Fahrt durch die Stadt den Mut fand, sie zu fragen, ob sie mal mit ihm ausging. Und sie konnte lernen, ihre Angst zu überwinden.
    Am Anfang war es die Hölle für sie gewesen. Sie hatte gezittert und ein Zerren und Reißen in der Magengegend gespürt, wenn sie nur darüber nachdachte, in seinen kleinen Nissan zu steigen. Die ersten vier Wochen hatte sie jeden Morgen eine Bluse zum Wechseln in ihre Handtasche gepackt, weil sie nach der Ankunft im Büro immer riesige Schweißflecke unter den Armen hatte. Inzwischen konnte sie darüber fast schon schmunzeln. Zum Glück hatte sie nie jemand dabei erwischt, wie sie sich auf der engen Toilette umständlich wusch und umzog. Sie wäre vor Scham gestorben.
    In dieser ersten Zeit musste Klaus sie für furchtbar schweigsam gehalten haben. All seine Versuche, ein zwangloses Gespräch zu beginnen, waren ins Leere gegangen. Oft hatte sie sich die Innenseite ihrer Unterlippe blutig gekaut und stumme Stoßgebete gen Himmel gesandt, wann immer er schneller als vierzig fuhr. Mittlerweile konnte sie immerhin kurz antworten, wenn er sich traute, etwas zu sagen.
    »Soll ich das Radio anmachen?«
    Jule erschrak, als seine rechte Hand sich vom Lenkrad löste. »Da vorne ist gelb!«, schrie sie und trat mit dem Fuß hart auf eine Bremse, die es gar nicht gab.
    »Seh ich doch«, murmelte Klaus entschuldigend und ließ den Wagen vor der nächsten Ampel ausrollen. Eine Rotte Schulkinder hopste johlend über die Straße, und Jule rang mühsam den Drang nieder, die Handbremse anzuziehen. Für heute hatte sie Klaus genug verstört. Sie beließ es dabei, sich rasch drei Mal am linken Ohrläppchen zu zupfen, eine der vielen kleinen Gesten, die ihr halfen, ihre Anspannung in belastenden Situationen abzubauen. Ihr entging nicht, dass er sie aus den Augenwinkeln beobachtete, und mehrere Male hüpfte sein vorspringender Adamsapfel auf und ab, als schluckte er eine Bemerkung hinunter.
    Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Das war nur ein kleiner Test von mir.«
    »Test?«
    »Für deine Reaktionszeit. Und du hast ihn bestanden, würde ich sagen. Mit Sternchen sogar.«
    Klaus runzelte die
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