Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod
Autoren: Ole Kristiansen
Vom Netzwerk:
Erste, bei dem sie die Behandlung nicht nach maximal zehn Sitzungen enttäuscht wieder abgebrochen hatte. Ihre Freundin Caro hatte ihn ihr wärmstens empfohlen. Manchmal zahlte es sich aus, wenn die einzige enge Vertraute, die man noch hatte, ebenfalls Phobikerin war. Exphobikerin, um genau zu sein, und da Seger einer so komplizierten und chaotischen Person wie Caro den Kopf gerade gebogen hatte, hatte Jule sich gute Chancen ausgerechnet, dass er auch ihr Innenleben zumindest auf lange Sicht wieder auf Vordermann bringen würde.
    Inzwischen werkelten sie und Seger schon seit fast einem Jahr gemeinsam daran, Jules Problem in den Griff zu bekommen. Ihm hatte sie es zu verdanken, dass sie mittlerweile wenigstens wieder als Beifahrerin in einem Auto sitzen konnte. Ein durchschlagender Erfolg, dessen Gründe hauptsächlich darin lagen, dass Seger anders war als seine Berufskollegen, mit denen Jule zuvor zu tun gehabt hatte. Er war weder abgehoben wie ihre erste Therapeutin – Typ Seidentuch und Bernsteinschmuck –, noch war er so ein blasser Charakter wie sein direkter Vorgänger, der die irritierende Angewohnheit gehabt hatte, wild mit den langen dünnen Fingern zu gestikulieren, während er mit seiner brüchigen Stimme etwas von kognitiven Dissonanzen salbaderte. Dank seiner platten Nase, seinem kurz geschorenen grauen Haar und seiner bulligen Statur erinnerte Seger eher an einen alten Preisboxer als an einen feinfühligen Psychotherapeuten. Jule gefiel diese Aura einer rücksichtslosen Zielstrebigkeit, auch wenn sie bezweifelte, dass man eine Phobie einfach so k. o. hauen konnte. Doch im Gegensatz zu ihren anderen Therapeuten war Seger jemand, dem sie das, was er ihr sagte, ansatzweise abkaufte. »Sie schaffen das, Jule«, munterte er sie weiter auf.
    »Ich bin ewig nicht mehr gefahren«, gab sie zu bedenken und klappte nervös die Handtasche auf ihrem Schoß auf und zu.
    »Das verlernt man nicht.« Die Strenge in seinen Worten hatte Jule zu fürchten gelernt, denn sie war oft mit unbequemen Wahrheiten verknüpft. »Tun Sie mir bitte einen Gefallen und suchen Sie nicht nach irgendwelchen albernen Ausreden. Wissen Sie noch, was Sie zu mir gesagt haben, als Sie das erste Mal hier auf diesem Stuhl gesessen haben?«
    Sie nickte. »Dass ich wieder richtig funktionieren will.«
    Deshalb hatte Jule sich auch für eine Verhaltenstherapie entschieden. Es mochte ja sein, dass sie in einer Psychoanalyse ihr Seelenleben umfassender und tiefgreifender ausgelotet hätte, doch darum ging es ihr nicht. Sie verfolgte lediglich die Absicht, sich in den Menschen zurück zu verwandeln, der sie vor dem Unfall gewesen war. In das lachende Mädchen, für das immer alles glattlief. Die Einser-Abiturientin, die sich nichts aus lernen machte und sich lieber mit ihren Freundinnen traf, um über Jungs zu sprechen. Nach außen hin führte sie auch nach dem Unfall ein glückliches Leben, in dem alles nach Plan lief. BWL-Diplom mit Nebenfach Jura in Rekordzeit und mit Auszeichnung. Einen Posten bei einem aufsteigenden Unternehmen in einem gesellschaftlich renommierten Industriezweig. Ein vorzügliches Gehalt, das es ihr erlaubte, einen großen Bogen um die H&Ms der Stadt zu machen und stattdessen in den Boutiquen am Jungfernstieg auf Shoppingtour zu gehen. Aber was zählten alle Errungenschaften, wenn man doch nur einen Wunsch hatte: eine zweite Chance. Noch einmal an jenem Tag aufwachen, an dem das Leben eine so schreckliche Wendung genommen hatte, um diesmal alles anders, alles richtig zu machen. »Und?«, fragte Seger. »Wollen Sie das immer noch? Funktionieren?«

5
     
    Schweigen legte sich über das geräumige Therapiezimmer, das Seger mit allerlei sonderbaren Fundstücken von Antikflohmärkten ausgestattet hatte: einem ausgestopften Fuchs, einer Standuhr ohne Zeiger auf dem Ziffernblatt, einer Staffelei nebst unvollendetem impressionistischen Landschaftsgemälde, einer Tischleuchte aus einem Straußenei … Jule ließ lange den Blick über die Kuriositäten schweifen, weil sie sich vor dem fürchtete, was geschehen würde, wenn sie Segers Frage bejahte. Dann würde es keine Ausflüchte mehr geben.
    »Jule …« Seger stützte die Arme auf der Platte seines Schreibtischs ab. »Seien wir doch ehrlich zueinander. Ihre Angst dreht sich nicht darum, dass Sie selbst durch ein Auto zu Schaden kommen könnten. Sie haben Angst davor, jemand anderen zu töten, sobald Sie wieder Auto fahren. Das ist etwas ungewöhnlich, und es ließe sich darüber
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher