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Lukkas Erbe

Lukkas Erbe

Titel: Lukkas Erbe
Autoren: Petra Hammesfahr
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Prolog
    Es war der letzte Dienstag im August 95, als Bens gewohntes Leben ein abruptes Ende fand. Er hatte seinen Freund getötet, aber das wusste er nicht. Zwischen Leben und Tod konnte er nicht unterscheiden. Er wusste nicht einmal, welcher von den vielen sein richtiger Name war. Seine Mutter sagte zu ihm guter Ben oder mein Bester. Seine jüngste Schwester rief ihn Bär oder Waldmensch. Seine beiden älteren Schwestern hatten ihn Idiot genannt, ehe sie große Koffer packten und fortgingen. Auch viele Leute aus dem Dorf sagten Idiot zu ihm. Und wenn sie sagten: «Hau ab, du Idiot», hieß das, er musste gehen.
    Er war zweiundzwanzig Jahre alt. Das wusste er auch nicht. Für ihn hatten Wochen, Monate und Jahre keine Bedeutung. Er kannte kein Gestern und kein Morgen, nur jetzt und vorbei. Und nach dem Tag, als er seinen Freund getötet hatte, war für ihn alles vorbei.
    Er lag in einem weißen Zimmer, in einem weißen Bett, bei weißen Leuten. Sein Kopf tat weh, seine Schulter, der Arm und die Hände taten weh. Und immer, wenn einer von den weißen Leuten an sein Bett trat, wurde er mit Nadeln gestochen, das tat auch weh. Er hatte Angst und wartete darauf, dass seine Mutter kam und ihn nach Hause holte.
    So hatte er es als Kind erlebt. Und er vergaß nie etwas, keine Furcht, keinen Schlag, keinen Schmerz, keine Freundlichkeit, kein Gesicht, keine Erfahrung. Und immer erwartete er, dass es so geschah, wie er es kannte. Aber diesmal war alles ganz anders.
    Seine Mutter kam nicht. Es kam nur eine Frau mit Fotos von hübschen Mädchen. Sie wollte von ihm wissen, ob er diese Mädchen gesehen habe und ihr sagen könne, was mit ihnen geschehen sei. Natürlich konnte er das, aber die Frau verstand ihn nicht.
    Die Frau mit Fragen und Fotos war ich, Kriminalhauptkommissarin Brigitte Halinger. Im September 95 war ich dreiundvierzig Jahre alt, seit zwanzig Jahren verheiratet und Mutter eines siebzehnjährigen Sohnes. Mir waren die Ermittlungen in einem Fall übertragen worden, den die Medien später Blutsommer nannten.
    Im August 95 waren in einem Dorf nahe der Kleinstadt Lohberg die siebzehnjährige Marlene Jensen, die dreizehnjährige Britta Lässler und eine zweiundzwanzigjährige Amerikanerin verschwunden. Der letzte bekannte Aufenthaltsort war jeweils ein Feldweg nahe dem einsam gelegenen Bungalow des Rechtsanwaltes Heinz Lukka gewesen.
    Die besondere Tragik: Marlene Jensen und Britta Lässler waren Cousinen. Zwei Mädchen aus einer Familie, da lag es auf der Hand, nach einem Motiv im Umfeld dieser Familie zu suchen. Das Motiv fand ich: verschmähte Liebe, die in Hass umschlug. Es war sechsundzwanzig Jahre her, eine unglaublich lange Zeit. Im Oktober 1969 hatte Marlene Jensens Mutter, damals in dem Alter, in dem ihre Tochter sterben musste, Heinz Lukka zurückgewiesen und ausgelacht.
    Die Leiche von Britta Lässler fand ich, Marlene Jensen und die Amerikanerin nicht. Dass es noch ein Opfer mehr war, erfuhr ich erst Monate später.
    Am letzten Dienstag im August 95 wurde in Lukkas Bungalow dann noch die dreizehnjährige Tanja Schlösser lebensgefährlich verletzt. Tanja war bei der Familie Lässler aufgewachsen, weil ihre Mutter Trude Schlösser stetsbeide Hände, beide Augen, ihre gesamte Kraft und Aufmerksamkeit für den einzigen Sohn brauchte, für Ben, den jungen Mann, den ich mehrfach im Lohberger Krankenhaus besuchte.
    Einige nannten ihn Puppengräber, weil er als Kind Puppen zerrissen und verbuddelt hatte. Er galt als schwachsinnig, und trotzdem hatte er dem Mörder gerade noch rechtzeitig das Genick gebrochen, um das Leben seiner jüngsten Schwester Tanja zu retten.
    Für mich war er nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie im März 96 die letzte Hoffnung, um das Schicksal der vermissten Frauen zu klären. Heinz Lukka konnte ich nicht mehr fragen.
    Ich habe schon ausführlich über den August 95 und über Bens Entwicklung berichtet. Das alles möchte ich nicht wieder aufwärmen. Aber einiges wird zwangsläufig noch einmal zur Sprache kommen, weil es nicht vorbei war, als die Akten geschlossen wurden. Viele Fragen waren offen geblieben. Fragen, die nur Ben hätte beantworten können. Aber er konnte es nicht mit Worten.
    In meinem ersten Bericht habe ich für ihn gesprochen. Dabei konnte ich ihn nur von außen betrachten, mit den Augen seiner Mutter Trude Schlösser.
    Als ich zwei Jahre später im Oktober 97 erneut ins Dorf gerufen wurde, mitten hinein in die Wiederholung des Blutsommers, hat es Wochen gedauert, ehe
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