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Lukkas Erbe

Lukkas Erbe

Titel: Lukkas Erbe
Autoren: Petra Hammesfahr
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Sie hatte eine üble Erfahrung mit ihm gemacht, beziehungsweise er mit ihr – seitdem tat Bärbel, als existiere ihr Bruder nicht.
    Als Trude Schlösser sich im Januar 96 so weit wie möglich von ihrem Infarkt erholt hatte und mir ihren Sohn noch einmal als wichtigen Zeugen ans Herz legte, weil sie ihn unbedingt wieder bei sich haben wollte, hatte ich den Fall längst zu den Akten gelegt. Ahnungslos, dass für seine Entlassung nur ein Gutachten notwendig und ein Amtsrichter zuständig gewesen wäre, rief Trude mich an.
    Sie war überzeugt, er wüsste, wo die Leichen der anderen Opfer waren. Um das zu untermauern, legte sie ein unfassbares Geständnis ab. Ben hatte in den Sommerwochen mehrere Beweise für Verbrechen nach Hause gebracht, die Handtasche von Svenja Krahl, einer siebzehnjährigen Schülerin, den blutigen Rucksack der Amerikanerin und zwei Finger von Marlene Jensen. Aus Angst, man könne ihn verdächtigen, hatte Trude alles in ihrem Küchenherd verbrannt.
    Niemand glaubte das auf Anhieb. Der zuständige Staatsanwalt vermutete, Trude wolle nur über die Justizbehörden Druck auf den Amtsrichter ausüben lassen, der für Bens Entlassung aus der Psychiatrie zuständig war.Entlassen wollte man ihn nämlich nicht mehr. Es hieß inzwischen, er sei gewalttätig, neige zu unmotivierten und unkontrollierbaren Wutausbrüchen.
    Es dauerte noch bis März, ehe man in der Landesklinik erkannte, warum er sich phasenweise friedfertig zeigte und dann unvermittelt zu toben begann. Die Ärzte taten sich schwer, ihn einzuschätzen. Er war nicht geistesgestört und nicht geisteskrank. Einer der Mediziner meinte, autistische Züge zu entdecken. Aber Ben war auch kein klassischer Autist. Es gab keinen Stempel, den man ihm auf die Stirn drücken konnte. Es war nicht einmal völlig korrekt, ihn als schwachsinnig zu bezeichnen.
    Sein Intellekt glich dem eines Kleinkindes. Aber er hatte ein paar besondere Fähigkeiten, es hatte sich nur nie jemand darum gekümmert, sie zu fördern, weil seine Mutter sich stets geweigert hatte, ihn in eine entsprechende Einrichtung zu geben. Trude Schlösser war immer der Meinung gewesen, er habe nicht mehr von seinem Leben als die Freiheit in Feld, Wald und Wiesen.
    Und in der Gefangenschaft hatte er davon nur noch die Bilder. Kein Mensch hatte auch nur die geringste Vorstellung von seinem Gedächtnis. Er kannte es nicht anders, als dass er in seinem scheinbar leeren Hirn ein Feuerwerk an Erinnerungen entfachen konnte. Wo andere sich Raum für Abstraktionen geschaffen hatten, die Informationen verwahrten, die notwendig waren, einen Beruf auszuüben, mit der Umgebung zu kommunizieren und viele Dinge mehr zu tun, da verwahrte er alle bemerkenswerten Eindrücke seines Lebens, auch die Sommerwochen, all die Antworten, von denen ich dachte, niemand könne sie mehr geben. Es war nicht chronologisch geordnet, aber das störte ihn nicht, solange er jederzeit darin eintauchen konnte.
    Er erinnerte sich nicht bloß, er fühlte, roch, schmeckte,wie es gewesen war. Dann war es für ihn jetzt und nicht vorbei. Er spürte den Wind im Gesicht und den Boden unter den Füßen. Er konnte zum Bendchen, einem Waldstück, laufen, verborgen im Gebüsch liegen, beobachten, was die jungen Männer mit den Mädchen machten, und feststellen, dass es den Mädchen gefiel. Er konnte noch einmal durch das offene Wagenfenster von Annette Lässlers Freund greifen, Annettes nackte Brüste streicheln, wie er es im Juni 95 getan hatte. Er konnte hören, wie Annettes Freund sich aufregte und Annette sagte: «Ist nicht so schlimm, Ben, er tobt nur, weil er sauer ist.»
    Er hatte ihr auch nicht wehgetan, da war er ganz sicher. Er hatte gut aufgepasst, wie die anderen jungen Männer es machten. Wehtun wollte er keinem Menschen, gewiss nicht einem hübschen jungen Mädchen.
    Er konnte im Bruch nach verborgenen Schätzen graben, tote Mäuse sammeln und sie verstecken in einem alten Gewölbekeller unter den Trümmerbergen, dessen Zugang lange Zeit nur er alleine gekannt hatte. Er konnte sich bei seinem Freund Lukka einen Riegel Schokolade und ein freundliches Wort holen, auf dem Lässler-Hof spielen mit seiner kleinen Schwester Tanja und Britta, sich von Antonia Lässler in die Arme nehmen und auf die Stirn küssen lassen.
    Er konnte jederzeit den Zirkus sehen und das erste schöne Mädchen in seinem Leben, eine junge Artistin am Trapez und auf Ponyrücken, mit der für ihn ein Wunder verknüpft war – und sein Untergang.
    Zwei Ereignisse
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