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Der Feuerstein

Der Feuerstein

Titel: Der Feuerstein
Autoren: Rae Carson
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    G ebetskerzen flackern in meinem Schlafzimmer. Die Scriptura Sancta liegt achtlos beiseitegeschoben und mit zerknickten Seiten auf meinem Bett. Vom langen Knien auf den harten Fliesen habe ich blaue Flecken, und der Feuerstein in meinem Nabel pulsiert spürbar. Ich habe gebetet – nein, ich habe darum gefleht –, dass König Alejandro de Vega, mein zukünftiger Ehemann, hässlich ist. Hässlich und alt und dick.
    Heute ist der Tag meiner Hochzeit. Und mein sechzehnter Geburtstag.
    Normalerweise vermeide ich Spiegel, aber dieser Tag ist von so großer Bedeutung, dass ich doch einen Blick riskiere. Allerdings zeigt das Bleiglas nur ein verschwommenes Bild, mein Kopf schmerzt, und mir ist schwindlig vor Hunger. Aber selbst so verzerrt sieht das Brautgewand, terno, das ich zur Hochzeit tragen soll, wunderschön aus. Es ist aus Seide, die wie Wasser fällt, und mit winzigen Glasperlen besetzt, die bei jeder Bewegung schimmern. Gestickte Rosen bedecken den Saum und die ausgestellten Manschetten der Ärmel. Es ist ein Meisterwerk, vor allem wenn man bedenkt, in welcher Eile es gefertigt wurde.

    Leider ist mir nur zu sehr bewusst, dass das terno seine ganze Schönheit verlieren wird, wenn es erst einmal zugeknöpft ist.
    Mit einer Handbewegung bitte ich meine Kinderfrau Ximena und meine Zofe Aneaxi, mir zu helfen, und bewaffnet mit Knopfhaken und entschuldigendem Lächeln treten sie zu mir.
    »Atme tief ein, mein Himmel«, weist mich Ximena an. »Und jetzt atme wieder aus. Raus mit der ganzen Luft, mein Schatz.«
    Ich presse die Luft aus meinen Lungen, presse und presse, bis mir noch schwindeliger ist. Die beiden Frauen ziehen und zerren mit ihren blitzenden Haken, und das Kleid wird eng und enger. Das Mieder im Spiegel zieht sich zusammen, gräbt sich in das Fleisch über meinen Hüften. Ein scharfer Schmerz schießt mir durch die Seite, ganz ähnlich wie das Stechen, das ich oft fühle, wenn ich eine Treppe emporsteige.
    »Gleich haben wir es, Elisa«, versichert mir Aneaxi, während mich das ungute Gefühl beschleicht, dass sich der Klammergriff des Kleides beim nächsten Atemzug als tödlich erweisen wird. Am liebsten würde ich mir das Mieder wieder vom Leib reißen. Ich will nicht heiraten.
    »Geschafft!«, rufen Ximena und Aneaxi wie aus einem Mund und treten einen Schritt zurück, um ihre Arbeit zu bewundern. »Was meinst du?«, fragt Aneaxi mit unsicherer, schwankender Stimme.
    Das terno lässt nur flache, hastige Atemzüge zu. »Ich meine …« Benebelt sehe ich auf meine Brüste hinunter. Der Stoff drückt eine tiefe Falte in mein üppiges Fleisch. »Vier!« Ein angespanntes Kichern dringt aus meiner Kehle. »Vier Brüste!«

    Meine Kinderfrau sieht mich mit einem seltsamen, beklommenen Gesichtsausdruck an. Als meine Brüste sich im letzten Jahr entwickelten, hat mir Ximena immer wieder versichert, dass Männer sie unwiderstehlich finden würden.
    »Es ist ein wunderschönes Kleid«, schwärmt Aneaxi und blickt starr auf meinen Rock.
    Ich schüttele den Kopf. »Ich sehe aus wie eine Wurst«, keuche ich. »Eine dicke, aufgedunsene Wurst in einer weißen Seidenhülle.« Am liebsten würde ich weinen. Oder lachen. Ich kann mich kaum entscheiden.
    Der Drang zu lachen gewinnt schließlich beinahe die Oberhand, aber meine beiden Damen schwirren mit gefurchten Gesichtern um mich herum, ergraute Glucken, die mir mit beruhigenden, gurrenden Lauten Mut machen wollen. »Nein, nein, du bist eine hübsche Braut!«, ruft Aneaxi. »Du bist nur schon wieder gewachsen, das ist alles. Und deine wunderschönen Augen! König Alejandro wird es gar nicht auffallen, dass das terno etwas eng sitzt.« Und nun fließen doch die Tränen, weil ich ihr Mitleid nicht ertrage und weil mir Ximena nicht in die Augen sehen kann, als Aneaxi ihre falschen Schmeicheleien ausspricht. Doch einen Augenblick später weine ich vor allem deshalb, weil ich das terno überhaupt nicht tragen will.
    Während ich herzzerreißend schluchze, küsst mich Aneaxi auf die Stirn, und Ximena wischt mir die Tränen weg. Zum Weinen braucht man Luft. Lange, tiefe Atemzüge. Die Seide spannt sich, der Stoff schneidet in meine Taille, das Gewebe reißt. Kristallknöpfe springen mit leisem Klirren über den glasierten Boden, während Luft in meine ausgehungerten
Lungen strömt. Mein Magen reagiert mit einem zornigen Knurren.
    Meine Kammerfrauen knien sich hastig hin, durchkämmen mit den Fingern die Lammfellteppiche, fahren über die Spalten zwischen den Tonfliesen
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