Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pfad der Seelen

Pfad der Seelen

Titel: Pfad der Seelen
Autoren: Anna Kendall
Vom Netzwerk:
1
    Zum ersten Mal bin ich als kleiner Junge mit knapp sechs Jahren auf dem Pfad der Seelen gegangen, an einem Markttag. Ich hatte Ziegenmilch über dem Stoff aus Leinen und Wolle vergossen, an dem Tante Jo wochenlang gewoben hatte – den Stoff, den sie auf dem Markt verkaufen wollte. Hartah schlug mich, bis ich bewusstlos wurde, und ich betrat den Pfad.
    Nein. Das stimmt nicht. Ich muss ihn schon früher betreten haben, während ich träumte. Manchmal, wenn mein kindliches Selbst geschlafen hatte, war es sicher ruhelos gewesen und hatte gefiebert, von irgendeiner Kinderkrankheit geschwächt, mit Kopf-, Hals- oder Bauchschmerzen. Denn das sind die Voraussetzungen – ein Loslassen, als würde man schlafen, und Schmerzen. Keine großen Schmerzen, auch wenn Hartah das nicht glaubt. Vielleicht gefällt es ihm aber auch nur, mich zu verprügeln.
    Jenes erste Mal vor acht Jahren – nachdem die Milch den leuchtend grünen Stoff besudelt hatte, meine Tante nach Luft schnappte, während ihr Mann mit diesem Ausdruck in den Augen den Kopf hob, und ich …
    » Roger«, sagte er in diesem Augenblick, » du wirst heute den Pfad betreten.« Wieder hob Hartah den Kopf, diesmal blickte er mich über den Rand seine Kruges mit Sauerbier an.
    Kälte kroch mir über den Nacken und das Rückgrat.
    Es begann gerade erst zu dämmern. Wir saßen allein in der Schankstube eines Gasthauses irgendwo auf der Straße nach Stonegreen. Es war keine besondere Herberge. Drei Tische aus grobem Holz auf dem Pflasterboden, zwei Leitern, die hinauf zu den » Zimmern« führten, bei denen es sich nur um einen Dachboden mit einem Lager aus schmutzigem Stroh handelte. Die Balken darüber waren so geschwärzt und schlecht in Schuss, dass der Ruß auf die Tische fiel. Dennoch war mir letzten Abend die Freude zu Kopf gestiegen, als unser Wagen vor den Ställen im Hof ausgerollt war. Im Sommer schliefen wir so gut wie nie unter einem Dach. Aber inzwischen begannen die ersten Blätter sich zu verfärben, und die Luft roch nach Regen. Hartah musste noch ein paar Pennys aufgespart – oder gestohlen – haben, um den Wirt zu bezahlen.
    » Heute ist Erntefest in Stonegreen«, sagte Hartah. » Du wirst auf den Pfad gehen.« Ehe er noch etwas hinzufügen konnte, öffnete sich die Tür des Gasthauses, und vier Männer kamen herein. Sie lärmten, lachten und scherzten, aber den Aufruhr in meinem Kopf übertönten sie nicht.
    Ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann nicht, ich tu es nicht …
    Aber ich wusste, dass ich es tun würde.
    » Hast du denn deinen Schafbock dabei, Farlowe?«, fragte einer der Männer. » Ein mickriges Vieh – damit gewinnst du keinen Preis, da möchte ich wetten!«
    » Hundertfünf Pfund und kein bisschen weniger!«
    » Alles nur Faltenhaut und marode Knochen!«
    Raues Männergelächter und Rufe nach » Bier! Bier vor dem Fest!« wurden laut.
    Die Frau des Wirtes kam aus der Küche, hinter ihr meine kleinlaute Tante Jo, die Hartah das Frühstück brachte. Sie sah mir nicht in die Augen. Sie wusste also, was Hartah heute mit mir vorhatte und wie er mich dazu bringen würde.
    » Bier! Bier vor dem Fest!«
    » Dann sollt ihr es bekommen«, rief die Frau des Wirtes, in jeder Hand einen schäumenden Krug, und zwei weitere, die sie auf ihren fleischigen Unterarmen balancierte. » Und ein Frühstück auch, wenn ihr Geld dabeihabt, ihr unflätiger Haufen! Guten Morgen, Tom, Philip, Jack … Henry, wo ist denn deine hübsche neue Frau? Als ich in ihrem Alter war, wäre ich an einem Festmorgen bestimmt nicht allein im Bett geblieben. Oder hat sie sich schon vor der Dämmerung mit dir verausgabt?«
    Der jüngste Mann wurde rot und wirkte stolz. Die anderen brüllten und neckten ihn, während sich die Frau mit an den Tisch setzte. Sie war plump, rotgesichtig, fröhlich – alles, was meine Tante nicht war. Tante Jo stellte ein Holzbrett mit Brot und Käse – ohne Fleisch – vor Hartah ab und zog sich rasch zurück. Sie war so eingeschüchtert, dass ihr nicht klar war, dass er sie hier, vor den Männern, denen er später etwas zu verkaufen hoffte, nicht schlagen würde. Ihr dürrer Körper bebte.
    Sie tat mir nicht leid. Nicht ein Mal hatte sie mich vor ihm beschützt. Nicht ein einziges Mal. Und für mich gab es weder Brot noch Käse. Vermutlich reichten Hartahs gestohlene Münzen nur für einen von uns.
    Der älteste der lachenden Männer warf mir einen Blick zu. Er schnippte beiläufig einen Penny über den Tisch. » Hier, Kleiner, wenn du ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher