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Pfad der Seelen

Pfad der Seelen

Titel: Pfad der Seelen
Autoren: Anna Kendall
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Lethargie riss? Das Schwert war so echt und fest wie alles andere hier.
    Einige der Toten trugen seltsame Gewänder, Kleider, wie ich sie auf meinen Reisen mit Hartah nie gesehen hatte. Grobe Felltuniken. Rüstungen mit roten Federbüschen auf seltsam geformten Helmen. Lange, weiße Roben. Die Alten unterhielten sich in Sprachen, die ich nicht kannte, wenn sie sich überhaupt unterhielten. Aber wo immer oder wann immer sie ihr Leben verloren hatten, sie benahmen sich alle gleich.
    Sie lauschten.
    Sie beobachteten.
    Sie warteten mit einer unvorstellbaren Geduld. Ich weiß nicht, worauf sie warten, was ihre ruhigen Blicke wahrnehmen. Und sie können oder wollen es mir nicht verraten.
    Nachdem ich so lange geblieben war, wie ich mich traute, nahm ich einen spitzen Stein aus der Tasche. Ich legte meine linke Hand auf den Felsen von Stonegreen und stieß mir den Stein, so fest ich konnte, in die Handfläche, fester als nötig. Es erfordert nicht annähernd so große Schmerzen, von hier fortzugehen, wie hierherzukommen. Aber ich wollte jemandem wehtun, und ich konnte die Schmerzen nicht Hartah zufügen, deshalb schlitzte ich mir die eigene Hand auf und betrat den Pfad zurück ins Land der Lebenden.
    » … und hat sich das Haar schwarz gefärbt, wie das ihrer Freundin Catherine Littlejohn«, schloss Hartah. Die Frau im Zelt brach in Tränen aus.
    Abermals lag ich unter dem Tisch, aber ich wusste bereits, dass es diesmal unnötig war. Die Frau schluchzte: » Oh, das war meine Mutter! Niemand sonst könnte all diese Dinge wissen, nicht all diese Einzelheiten, nicht so! Und sie hat gesagt, dass sie sicher und glücklich ist …«
    » Ja. Und dass sie Euch sehr liebt«, fügte Hartah hinzu. Bei diesen Gelegenheiten gab er seiner Stimme einen Klang, den Tante Jo und ich kaum je zu hören bekamen: leise, langsam, völlig frei von seinem üblichen Knurren. Er saß weit von der Frau entfernt – unsere Kunden waren üblicherweise Frauen –, um sie nicht mit seiner großen Masse zu beunruhigen, aber auch, um sich in eine Aura des Rätselhaften zu hüllen. Der Hass auf ihn füllte meinen Mund wie fauliges Fleisch.
    » Meine gute Mutter! Oh, ich danke Euch, guter Herr, ich kann Euch nie genug danken, Ihr habt mir ein unbezahlbares Geschenk gemacht!«
    Aber natürlich war etwas zu bezahlen. Hartah verlangte Geld von Frau Ann Littlejohn, geborene Humphries, und das Versprechen zu schweigen. Genauso machte er es mit Catherine Carter, geborene Littlejohn, und mit Joan St. Clare und ihrem jungen Vetter Geoffrey Morton. Sie alle hatten ihr ganzes Leben in Stonegreen verbracht, die Humphries und die Carters, die Littlejohns und die St. Clares, genauso wie ihre Eltern und Großeltern zuvor. Ihre Familiengeheimnisse waren geteilte Geheimnisse, und die verstorbene Gevatterin Humphries hatte sie alle gekannt.
    » Ein gutes Tagwerk«, sagte Hartah zu mir, nachdem der letzte Kunde das Zelt verlassen hatte. Er bezog sich auf seine Arbeit, nicht die meine. Er hatte die Prügel schon vergessen, die er mir heute Morgen verabreicht hatte – sie waren genauso aus seinen Gedanken getilgt, wie das Grab die Liebe aus den Gedanken der Toten tilgte.
    » Darf ich gehen?« Ich versuchte, den Zorn und die Furcht aus meiner Stimme fernzuhalten.
    » Ja, ja, geh nur, wer braucht dich jetzt noch?«
    Draußen fielen lange Schatten über die Festwiese. Die Dämmerung zog sich am Horizont zusammen, mild und blau und mit dem Geruch der kommenden Nacht. Bauern lenkten ihre Wagen nach Hause, um das erleichtert, was sie verkauft hatten, und mit dem beladen, was sie erstanden hatten. Die Bewohner von Stonegreen hielten sich noch an den verbleibenden Ständen und im Bierzelt auf, weil sie nicht wollten, dass ihr kurzer Urlaub schon zu Ende war. Manche, sowohl Männer als auch Frauen, waren betrunken. Sie stolperten herum, sangen und lachten, ihr Frohsinn pflanzte sich von Gruppe zu Gruppe fort. Ich fand meine Tante, die im Schatten von Hartahs Wagen saß. Da sie kein Geld hatte, um das Fest zu genießen, hatte sie vermutlich den Großteil des Tages hier verbracht. Wortlos hob sie den Blick zu mir.
    » Ein guter Fang«, sagte ich. » Wir werden zu essen haben.«
    Sie lächelte nicht; alles Lächeln war schon vor Jahren aus ihrem Gesicht verschwunden. Aber sie verschränkte die Hände über ihrem dürren Magen, als würde sie ein Dankgebet sprechen. Ich hielt es nicht mehr aus, sie länger anzusehen. Ein Dankgebet, für eine Brotkruste und ein Stück Käse! Ich stapfte
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