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Der fremde Tote

Der fremde Tote

Titel: Der fremde Tote
Autoren: Agnes Jäggi
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1. Nächtliche Besuche
     

    Wie stets parke ich meinen bejahrten nachtblauen VW Käfer hinter der alten stillgelegten Fabrik auf dem von Unkraut überwucherten Parkplatz. Hundert Meter weiter, nach einer letzten Biegung, tauchen die ersten Häuser des kleinen Dorfes auf, in dem ich aufgewachsen bin. Es ist kurz nach Mitternacht und nicht damit zu rechnen, dass noch Menschen auf der Strasse anzutreffen sind. Ich möchte nicht gesehen werden, auch wenn mich in der Dunkelheit kaum jemand erkennen würde. Dennoch könnte eine schlaflose Seele irgendwo am Fenster stehen und mich beobachten. Eine einsame Gestalt im langen schwarzen Mantel, die durch die ausgestorbenen nächtlichen Strassen des Ortes streift. Das erweckt Aufsehen, und wer sich langweilt, der greift schnell einmal nach dem Telefon, um die Polizeistation von Mölzen, einer grösseren Ortschaft in der Nähe, zu verständigen. Natürlich habe ich nichts Ungesetzliches vor, dennoch könnten meine nächtlichen Besuche in Ernheim falsch aufgefasst werden. Ausserdem reden die Leute gerne. Gar, wenn so etwas Merkwürdiges in einem Ort geschieht, wo sich eigentlich nie etwas von Bedeutung ereignet – an der Oberfläche wenigstens. Denn weiter unten, gut versteckt unter Rechtschaffenheit und Ordnung, da gibt es schon düstere Geheimnisse. Doch sie sind Sache der kleinen Gemeinschaft in diesem idyllischen Dorf. Seit Generationen schon, und Aussenstehende gehen diese nichts an. Für sie ist Ernheim ganz einfach eines dieser entzückenden Dörfer in einem ausserordentlich grünen, blühenden Tal im Mittelland.

    Nun, ich bin nicht hier, um bei den Bewohnern für Aufregung oder sogar Unfrieden zu sorgen. Ich bin hier – ja, warum eigentlich? Vielleicht, weil ich ein bisschen verrückt bin; vielleicht, weil ich einsam bin; vielleicht, weil ich die Einsamkeit als Freundin betrachte. Ich komme in der Nacht, um die Tage meiner Kindheit aufleben zu lassen, Erinnerungen aufzufrischen. Und vor Anbruch der Morgenröte kehre ich zurück in meine kleine Wohnung in der Stadt, meist versorgt mit Ideen und Anregungen für gruselige Geschichten, die ich an verschiedene Magazine verkaufe. Davon lebe ich ganz gut. Und auf diese Weise bin ich nicht mehr gezwungen, mich Tag für Tag in einem Büro hinter mein Pult zu setzen und Anweisungen von Vorgesetzten auszuführen für Geschäfte, die mich nicht im Geringsten interessieren.

    Mein Einkommen ist nicht hoch, doch reicht es, um mir meine Freiheit zu erhalten. Das mag auch der Grund sein, weshalb ich seit einigen Wochen immer wieder hier auftauche, hier, in diesem Dorf, wo ich aufgewachsen bin, wo ich niemals wirklich glücklich gewesen bin. Aber auch das ist nichts Aussergewöhnliches, denn ich war auch sonst nirgends glücklich. Na ja, das ist vielleicht etwas übertrieben, denn ich lebe eigentlich ganz angenehm, habe ein paar wenige, aber sehr enge Freunde. Mit meiner Familie, die ich nur sporadisch sehe, komme ich auch gut aus. Aber damals, als Kind, war ich meiner Meinung nach äusserst unfrei, eng eingebunden in verschiedene Strukturen wie Familie, Turnverein, Schule und so weiter und so fort.
    Wie auch immer, jetzt komme ich manchmal hierher, schlendere durch die engen Strassen und Gassen, vorbei am einzigen Lebensmittelgeschäft, an der Schule, an Häusern, wo Verwandte von mir lebten und wo deren Nachkommen vielleicht noch oder wieder wohnen. Das Schöne an diesen Ausflügen ist, dass ich kommen und gehen kann, wie es mir beliebt. Es gibt niemanden, der mir sagt, was ich zu tun, wie ich mich zu benehmen habe. Ich bin frei.

    Als ich das endlich erkannte, dass ich frei war, meine ich, da verlor ich auch einige der Ängste, die mich als Kind gequält hatten. Angst vor Dunkelheit, Angst vor Beschimpfungen, Angst vor dem Alleinsein, Angst vor dem Leben überhaupt.

    Wenn ich zum Friedhof komme, dann leuchte ich mit meiner feinen Taschenlampe die Namen, Geburts- und Todesdaten ab. Sie alle, die hier ruhen, haben eine gewisse Zeit auf unserer Welt verbracht, dann sind sie gegangen. Was mich betrifft, ich möchte nicht auf einem Friedhof beigesetzt werden, denn dann müsste ich mich wieder Regeln unterwerfen, was ich nie gemocht habe. Vielleicht aber ändert sich das noch im Laufe meines Lebens, denn eigentlich ist es doch schön, einer Gemeinschaft anzugehören, auch wenn man dann nicht mehr ganz so frei ist. Überhaupt muss ich in Zukunft tiefer, ernsthafter über diesen so verlockend klingenden Begriff ’Freiheit’ nachdenken.
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