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Pfad der Seelen

Pfad der Seelen

Titel: Pfad der Seelen
Autoren: Anna Kendall
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Sonne.
    Es gibt Licht, einen gleichmäßigen, gedämpften Schein wie an einem wolkenverhangenen Tag. Der Himmel ist immer von einem dunklen, nichtssagenden Grau. Die Luft ist ruhig, und ich konnte wieder mühelos atmen, meine Brust tat überhaupt nicht mehr weh. Der Schmerz folgt mir nicht, wenn ich den Pfad der Seelen betrete. Er ist nur der Preis, den man für den Übergang bezahlt.
    In dem kühlen, ruhigen Licht ging ich auf das Glitzern des Wassers zu. Bevor ich ankam, erreichte ich den großen, moosbedeckten Stein, der auf der anderen Seite den Dorfanger kennzeichnete. Der Fels sah genauso aus, allerdings fehlten die Häuschen und Läden und Felder von Stonegreen um ihn herum. Die Straße ebenso. Es gab hier keine Straßen, nur das unberührte Gras eines endlosen Sommers. Die Schritte der Toten hinterlassen keine Spuren.
    Fünf von ihnen saßen mit überkreuzten Beinen neben dem Stein; sie fassten sich gegenseitig an den Händen und bildeten so einen Kreis. Das tun sie gerne. Es fällt mir immer schwer, die Aufmerksamkeit der Toten zu erringen, aber wenn sie einen ihrer Kreise bilden, ist es unmöglich. Sie sitzen sehr lange so da – tagelang, jahrelang –, sprechen nie, und auf jedem ihrer Gesichter liegt der ruhige, abwesende Ausdruck eines Mannes, der mit Pfeil und Bogen zielt, oder einer Frau, die sich über eine schwierige Stickarbeit beugt. Ich ging an ihnen vorüber und hielt weiter auf den Fluss zu.
    Dort saß eine alte Frau allein unter einem ausladenden Baum, ihre bloßen Zehen baumelten im Wasser. Sie trug ein grobes braunes Kleid und eine weiße Schürze, ihr graues Haar hatte sie unter eine altmodische Kappe mit langen Zipfeln gesteckt. Die Alten sind die einzigen Toten, die mit mir sprechen möchten – oder vielleicht auch können –, und die alten Frauen sind die eifrigsten Erzählerinnen. Ich setzte mich neben sie ans Ufer und sagte: » Guten Morgen, Gevatterin.«
    Nichts. Sie bemerkte meine Anwesenheit nicht. Was sahen die Toten, wenn sie meiner ansichtig wurden? Ein Irrlicht, ein Schimmern in der Luft? Ich wusste es wirklich nicht. Ich drückte ihr fest den Arm, gleich oberhalb des Ellbogens, und rief: » Guten Morgen, Gevatterin!«
    Langsam wandte sie den Kopf, kniff die eingesunkenen, blauen Augen zusammen und fragte: » Wer ist da?«
    » Ich bin Roger Kilbourne. Zu Euren Diensten.«
    Das lockte sie aus der Reserve. Sie lachte gackernd. » Und welchen Dienst kannst du mir wohl leisten? Du hast den Pfad der Seelen betreten, um uns zu belästigen, oder etwa nicht?«
    » Ja, Gevatterin.«
    » Was zum Teufel willst du nun? Geh zurück, Junge, deine Zeit ist nicht gekommen. Noch nicht.«
    » Ich weiß«, sagte ich demütig. » Aber ich möchte Euch ein paar Fragen stellen, Lady.«
    Sie gackerte abermals. »› Lady‹! Bin noch nie eine Lady gewesen. Ich bin Ann Humphries, Junge.«
    Das war ein Glücksfall. Vor nicht einmal einer Stunde – wenn Stunden hier dieselbe Bedeutung hatten, was ich bezweifelte – hatte ich unter dem Tisch gelegen, während eine andere Frau, die diesen Namen trug, in Hartahs Zelt geschluchzt hatte.
    » Meine Mutter … erst im letzten Winter von uns gegangen … ihre Lungen … Ich weiß, dass es schlecht ist, so etwas zu tun, aber ich vermisse sie so sehr … sie war die Einzige, die es je gekümmert hat, was aus mir oder meinen Kindern geworden ist … mein Tunichtgut von einem Mann … Trinken und Schulden und … Meine Mutter, meine Mutter, meine Mutter …«
    Meine Mutter, in einem violetten Kleid. Aber ich würde meine eigene Mutter hier niemals aufspüren. Die Toten bewegten sich nicht weit fort von dem Ort, an dem sie den Pfad der Seelen betreten hatten. Und weder Hartah noch Tante Jo wollten mir verraten, wo meine Mutter gestorben war, oder unter welchen Umständen. Von meinem Vater wollte meine Tante überhaupt nicht sprechen. Ich hatte es aufgegeben, diese Fragen zu stellen.
    Ich sagte: » Gevatterin Humphries, heute habe ich Eure Tochter getroffen, die Euren Namen trägt, Ann.«
    » Wirklich?«, fragte sie und bewegte die Füße, um im Wasser zu planschen. » Sieh dir die weißen Steine unter dem Wasser an. Schau, wie sie ihre Gestalt zu verändern scheinen.«
    Das ist es, was die Lebenden an den Toten nicht verstehen, das, was ich ihnen niemals erzählen darf. Die Toten, wenn sie nicht erst vor sehr kurzer Zeit den Pfad der Seelen betreten haben, kümmern sich nicht um jene, die sie zurückgelassen haben.
    Sie erinnern sich an die Lebenden, das schon.
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