Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sturm über der Wüste

Sturm über der Wüste

Titel: Sturm über der Wüste
Autoren: Linda Lael Miller
Vom Netzwerk:
1. KAPITEL
    Molly Shields zwang sich, vor dem riesigen Backsteinhaus stehen zu bleiben. Sie holte tief Luft und atmete sehr langsam wieder aus. Sonst wäre sie wahrscheinlich über das Tor geklettert und so schnell wie nur irgend möglich über den Weg gehetzt.
    Lucas .
    Lucas lebte in diesem gewaltigen Gebäude.
    Aber Psyche auch. Und zumindest nach Ansicht des Rests der Welt war Psyche Ryan Lucas’ Mutter.
    Alles in Molly sträubte sich gegen diese Tatsache.
    Der kleine Junge war jetzt achtzehn Monate alt – achtzehn Monate, zwei Wochen und fünf Tage. Kurz nach seiner Geburt hatte sie ihn zum letzten Mal gesehen. Seitdem hatte Psyche ihr ab und zu ein paar Schnappschüsse geschickt. Aus Lucas war ein kräftiger, hübscher blonder Junge geworden, mit strahlend grünen Augen. Er sah seinem Vater ähnlicher als ihr.
    In wenigen Minuten, vielleicht Sekunden, würde sie endlich das Kind sehen, das sie trotz allem als ihr eigenes betrachtete, zumindest in schwachen Momenten.
    Vielleicht erlaubte Psyche ihr, Lucas auf den Arm zu nehmen. Nichts wünschte Molly sich mehr, als den Duft seiner Haut und Haare einzuatmen …
    Vorsicht, warnte sie eine innere Stimme.
    Es grenzte sowieso an ein Wunder, dass Psyche – eine völlig Fremde und, nicht zu vergessen, betrogene Ehefrau – Molly in diese kleine Stadt gebeten hatte. Sie durfte es nicht zu weit treiben. Wunder waren selten und zerbrechlich, sie mussten mit höchster Sorgfalt behandelt werden.
    Sie hatte keine Ahnung, warum Psyche sie hergebeten hatte oder wie lange sie bleiben sollte. Die Frau hatte ihr ein Erste-Klasse-Ticket von Los Angeles nach Phoenix angeboten, wo ein Fahrer sie abholen sollte. Doch Molly hatte beschlossen, stattdessen den Bus zu nehmen. Vielleicht war das ihre Art von Buße.
    Natürlich wäre es klüger gewesen, überhaupt nicht zu kommen. Aber sie konnte der Versuchung, Lucas wiederzusehen, einfach nicht widerstehen.
    Die schwere Eingangstür schwang auf, als sie gerade die Treppe erreichte. Eine schwarze Frau mittleren Alters trat vor die Tür. Sie war dünn und groß und trug eine frisch gebügelte weiße Uniform und Schuhe mit Kreppsohlen.
    „Sind Sie’s?“, fragte sie rundheraus.
    Molly schluckte und nickte verdrossen.
    „Nun, dann kommen Sie mal rein“, sagte die Frau, wobei sie sich mit einer Hand Luft zufächelte. „Ich kann nicht den ganzen Tag bei offener Tür hier auf der Veranda herumstehen, wissen Sie. So ’ne Klimaanlage laufen zu lassen, kostet Geld.“
    „Sie müssen Florence sein“, bemerkte Molly.
    Florence nickte mit gerunzelter Stirn. „Ist dieser Rucksack Ihr ganzes Gepäck?“
    „Nein, das war zu schwer zum Tragen.“ Wie einige andere ganz persönliche Probleme auch, aber sie marschierte trotzdem immer weiter. Überwiegend deshalb, weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte.
    Nach einem kurzen Räuspern trat die Haushälterin zur Seite, um Molly Platz zu machen. „Wir fahren später mit meinem Auto zur Busstation, um den Rest zu holen. Im Moment ruht sich Miss Psyche zwar gerade oben aus, ich möchte aber trotzdem ein Auge auf sie haben.“ Hinter der dicken Brille wurden ihre schokoladenbraunen Augen glasig, und sie seufzte. „Mein armes Baby“, fügte sie hinzu, eher an die Sträucher als an Molly gewandt. „Sie ist völlig erschöpft von dem Umzug hierher. Wenn ich etwas zu sagen hätte, wären wir in Flagstaff geblieben, wo wir hingehören. Aber wenn dieses Mädchen sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, ist nichts zu machen.“
    Am liebsten hätte Molly nach Lucas gefragt. Doch sie musste sich vorsichtig verhalten, vor allem gegenüber dieser langjährigen Angestellten der Familie. Florence Washington war schon Psyches Kindermädchen gewesen. Als Psyche Thayer Ryan heiratete, blieb sie, um für das Ehepaar den Haushalt zu führen.
    Molly spürte, wie ihr Magen sich verkrampfte.
    Vor einem Jahr war Thayer mit siebenunddreißig Jahren an einem Herzinfarkt gestorben. Zwar hatte sie ihm nicht den Tod gewünscht, doch betrauern konnte sie ihm genauso wenig. Weder war sie zu seiner Beerdigung gegangen noch hatte sie Blumen oder eine Beileidskarte geschickt.
    Was hätte sie auch schreiben sollen? Herzliches Beileid von der Geliebten Ihres verstorbenen Mannes?
    Florence trottete durch die Eingangshalle an einer gewundenen Treppe vorbei, dann durch einen langen Korridor, den zu beiden Seiten große, abgedunkelte Räume säumten. Molly folgte ihr langsam in eine sonnendurchflutete Küche mit deckenhohen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher