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Pfad der Seelen

Pfad der Seelen

Titel: Pfad der Seelen
Autoren: Anna Kendall
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hielt. » Ich verrate dir, woran ich glaube, Roger«, sagte sie mit diesem wunderbaren Lächeln. » Ich glaube an Sterne und Blumen und Zuckerwerk und meine Puppe!«
    Da erkannte ich es. Ihre Schönheit hatte mich getäuscht, genauso ihre schöne Stimme. Sie stotterte nicht wie das arme Wesen, dem Hartah im letzten Städtchen einen Tritt verpasst hatte; ihr Kopf war nicht zu groß, und ihr Blick war nicht leer. Aber sie hatte nicht alle Sinne beisammen, und der Verstand, den sie im Kopf hatte, war jünger als ihr beinahe erwachsener Körper. Ich dachte deshalb nicht schlechter von ihr. Es ließ in mir den Wunsch entstehen, sie zu beschützen vor jenen, die ihre kindliche Sprache und ihren sechsten Finger als Ausreden benutzen wollten, um ihr wehzutun. Die Wärme ihrer Hände fühlte sich wie das Beste an, das ich den ganzen Sommer lang erlebt hatte.
    Ehe ich ihr eine Antwort geben konnte, rief eine weitere Stimme, vor Angst hoch und verzerrt: » Cat! Wo bist du?« Eine ältere Frau bahnte sich einen Weg durch die Bäume zum Flussufer. » Hier bist du ja! Du sollst doch nicht … Wir haben sie verloren, mein Herr, ich hoffe, sie hat Euch keinen Ärger bereitet …« Beim Anblick meiner Hand in Cats Fingern blieb die Frau jäh stehen.
    Sie war Cats Mutter, hatte die gleichen braunen Augen, das schwarze Haar, die hübschen Züge, obwohl das Haar dieser Frau unter einer Haube zusammengefasst war und ihr Gesicht vor Sorge angespannt. Ich bemühte mich, sie zu beschwichtigen.
    » Keinerlei Ärger, gute Frau, überhaupt nicht. Wir haben uns nur unterhalten. Es geht ihr gut.«
    Frau Starling blickte zwischen mir und ihrer Tochter hin und her und versuchte, die Lage einzuschätzen. Ich sah, wie sie meine alten Kleider bemerkte, die mir an Beinen und Ärmeln zu kurz waren, meine dreckigen Haare, das Loch in einem Stiefel. Ich sah, wie sie entschied, dass ich nirgendwo hinlänglich Einfluss hatte, was immer ich auch gesehen hatte, und dass ich daher keine Bedrohung darstellte. Aber sie blieb freundlich.
    » Danke, mein Herr. Cat muss jetzt gehen, wir brechen nach Hause auf. Komm, Tochter.«
    » Lebewohl, Roger«, sagte Cat. » Wir sehen uns wieder!«
    Das würde, wie ich wusste, nicht geschehen. Nicht nur, weil Cat offensichtlich das Kind eines reichen Bauern war, sondern weil auch mindestens ein Elternteil sie liebte und alles tun würde, um sie zu behüten. Ich sah ihr nach, und in meiner Brust haderte eine seltsame und bittere Mischung aus Bedauern, Eifersucht und Verlangen. Ich wollte, dass Cat hierblieb. Ich wollte mit ihr gehen. Ich wollte bei ihr sein, mitsamt dem sechsten Finger und allem anderen.
    Ein sechster Finger und ein beeinträchtigter Verstand waren geringere Gebrechen als das, woran ich litt.
    Langsam verließ ich das grüne Flussufer und ging zurück zu Hartahs Wagen.

4
    Wir verbrachten die Nacht in derselben grobschlächtigen Herberge fünf Meilen außerhalb von Stonegreen, und ausnahmsweise gab es einmal für uns alle drei ein Abendessen. Ich schlang Käse und Brot regelrecht hinunter, weil ich nicht wusste, wann ich wieder dergleichen bekommen würde. Sogar Tante Jo griff beherzt zu, während sie auf der Holzbank so weit wie möglich von Hartah entfernt saß, den Blick gesenkt. Das Licht des Feuers färbte eine ihrer Wangen rötlich, was in ihrem dünnen, faltigen Gesicht grotesk wirkte. Hätte meine Mutter genauso ausgesehen, wenn sie noch leben würde? Nein. In meinen kindlichen Erinnerungen an sie war meine Mutter schön.
    Weshalb, wandten sich meine Gedanken Tante Jo zu, willst du mir nicht verraten, wo und wie meine Mutter gestorben ist, du bemitleidenswerte Frau? Tante Jo hob den Kopf. Einen Augenblick lang kreuzten sich unsere Blicke. Sie sah zur Seite.
    » Gutes Essen«, grunzte Hartah und rülpste.
    Am nächsten Morgen war die Luft deutlich kälter geworden. In ein paar Wochen würde das Gras schon von Frost bedeckt sein. Zu meiner Überraschung wandte Hartah den Wagen nach Süden. Während die Sonne den Tag langsam wärmer werden ließ, schien er sogar beste Laune zu haben und pfiff unmelodisch vor sich hin. Ich saß hinten im hüpfenden Wagen, saß auf dem zusammengelegten Festzelt und sah einer Fliege zu, die über Hartahs Nacken krabbelte. Nachdem wir ein paar Stunden schweigend gefahren waren, wagte ich es, eine Frage an seinen und den Rücken meiner Tante zu richten.
    » Wohin sind wir unterwegs?«
    » Zum Meer.« Er lachte. » Ich habe Lust, im Meer zu baden.«
    Er badete so gut wie gar
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