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Pfad der Seelen

Pfad der Seelen

Titel: Pfad der Seelen
Autoren: Anna Kendall
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rief Hartah. Zwei Männer traten aus der Hütte, einer jung und einer etwa in Hartahs Alter. Der ältere stützte sich auf einen Holzstab, eines seiner Beine war verdreht und untauglich. Er hinkte zu uns.
    » Ihr seid also gekommen.«
    » Das sind wir«, sagte Hartah.
    » Ist das dein Junge?«
    » Ja.«
    » Nun, wir werden zusehen, dass er seinen Teil der Aufgabe erfüllt.«
    » Das wird er.«
    Der jüngere Mann starrte mich mit finsterem Gesicht an. Er war wohl siebzehn oder achtzehn, mit breiten Schultern und gut aussehend, blondes Haar fiel ihm in die hellblauen Augen. Ich fragte mich unwillkürlich, ob Cat Starling ihn wohl gemocht hätte, ob sie ihn geküsst hätte.
    » Dann kommt«, meinte der ältere.
    » Ist noch jemand …«
    » Bald.«
    Hartah wandte sich an Tante Jo: » Errichte ein Lager. Dort, unter den Bäumen am Bach. Nicht zu nahe an der Hütte, oder du wirst dir wünschen, es anders gemacht zu haben. Du auch, Junge.« Er und der blonde Jüngling marschierten in die Hütte, der Mann mit dem lahmen Bein humpelte hinter ihnen her.
    Meine Tante und ich zogen den Wagen unter die Bäume, banden das Pferd an, versorgten es und machten Feuer. Es gab nichts, das man hätte kochen können. Während ich auf meinem Stück Brot kaute, das hart und schimmelig war, trafen drei weitere Männer auf der Lichtung ein. Keiner hatte eine Familie bei sich. Sie verschwanden in der Hütte.
    Meine Tante reichte mir ihr Brotstück. Sie hatte es nicht angerührt. Als ich sie überrascht ansah, keuchte ich auf. Noch nie hatte ich ein Gesicht wie das ihre gesehen. Weißer als Frost, und ihre Augen ebenso erstarrt, weit aufgerissen und vor Grauen unbeweglich.
    » Tante … was …«
    Unversehens wandte sie den Kopf ab und übergab sich ins Unterholz. Sie würgte dünne Fäden aus braungrüner Galle hervor. In Wahrheit war ich überrascht, dass sie überhaupt etwas erbrach, da wir so wenig gegessen hatten. Noch überraschender war, dass sie sich zu fangen schien, nachdem sie sich übergeben hatte, oder zumindest ihre Stimme wiederfand.
    » Geh, Roger. Geh sofort. Was sie vorhaben … du darfst nicht … lauf!«
    Ich starrte sie über das erlöschende Feuer hinweg an. Noch nie hatte sie mir zur Flucht vor Hartah geraten oder versucht, mich vor ihm zu schützen. Ich sagte: » Was haben sie vor? Was wird geschehen?«
    » Geh. Geh. Geh.« Sie stöhnte inzwischen wie ein Tier in der Falle, während sie auf ihren dünnen Hüften vor- und zurückschaukelte. Wie hätte ich gehen und sie so zurücklassen können? Sie war meine Tante, die Schwester meiner Mutter, und ich konnte sie nicht den Dingen überlassen, die sie so sehr fürchtete …
    Nein. Das stimmte nicht. Die Wahrheit war härter, beschämender: Ich hatte Angst vor dem Weglaufen. Davor, mich in dieses wilde Land abzusetzen, ohne Waffen oder Geld oder Nahrung … und Hartah hatte gedroht, dass er … wenn er mich verfolgte und erwischte …
    Ich war beschämt von meiner Feigheit, und die Scham machte mich zornig. » Du hast den Verstand verloren! Ich kann nicht gehen! Halt den Mund oder ich …« Ich hielt entsetzt inne. Ich klang wie Hartah.
    Auch Tante Jo hielt inne. Kein Stöhnen mehr, kein weiteres Schaukeln. Sie sank auf ihre Decke, ihr Gesicht von mir abgewandt, und lag still da. Aber ein weiterer Satz drang von ihrer Seite des Feuers zu mir, und er klang deutlich und kalt wie die Meeresluft.
    » Deine Mutter ist bei Hyrgyll gestorben, im Seelenrankenmoor.«
    Ich regte mich nicht mehr. Es schien, als würde sich die ganze Welt nicht mehr regen: Die Blätter raschelten nicht, der Wind blies nicht, die Glut knackte nicht in der Asche des Feuers. Bei Hyrgyll, im Seelenrankenmoor. Nachdem sie sich jahrelang geweigert hatte, mir etwas über meine Eltern zu erzählen. Über meine Mutter.
    » Wo ist das Seelenrankenmoor?«, wollte ich wissen. » Und wie? Wie ist sie gestorben?«
    Tante Jo sagte nichts, sie war starr wie ein Stein.
    » Wie? Und was ist mit meinem Vater … Tante Jo?«
    Aber Tante Jo sagte kein Wort mehr. Sie lag da, so steif und unnahbar, als wäre es sie und nicht ihre Schwester, die an diesem unbekannten Ort gestorben war. Diesem noch unbekannten Ort. Aber ich würde ihn aufspüren. Nun, da ich einen Namen hatte, würde ich ihn finden. Und zum ersten Mal überhaupt würde ich den Pfad der Seelen mit Freuden betreten.
    Meine Mutter, in ihrem violetten Kleid …
    Es dauerte lange, bis ich einschlafen konnte. Ich betrachtete die Sterne zwischen den Ästen der
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