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Pfad der Seelen

Pfad der Seelen

Titel: Pfad der Seelen
Autoren: Anna Kendall
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Kapitän erkennen, was geschah …?
    Ich wusste es nicht. Ich war nie auf einem Schiff gewesen. Und es gab nichts, was ich tun konnte.
    Die Zeit verging. Ich wusste nicht, wie lange es dauerte. Der Regen peitschte auf mich ein, während ich mich gegen die Klippen drückte, und dort draußen auf dem Meer kämpfte ein Schiff mit dem Sturm. Seine Lichter schienen näher zu kommen und sich dann wieder zurückzuziehen. Im Regen und der Dunkelheit konnte ich keine Entfernungen einschätzen. Ich konnte gar nichts einschätzen.
    Aber es verging genug Zeit, dass die Wolken im Osten über dem Gipfel einer Klippe heller werden konnten, und ich schöpfte Hoffnung. Wenn es schnell genug hell wurde, sodass das Schiff die Gefahr bemerkte …
    Dazu kam es nicht. Selbst über die hämmernden Wellen hinweg hörte ich das Krachen, als das Schiff auf die Felsen lief und splitterte. Seine Lichter hüpften wild auf und ab. Ein paar Augenblicke später erloschen sie.
    Die Männer auf dem Strand schrien vor Freude.
    Die Dämmerung kam. Während hinter den zornigen Wolken eine unsichtbare Sonne aufging, kam der gesamte grauenhafte Anblick ans Licht. Das Schiff lag etwa eine Viertelmeile weit draußen auf der Seite und brach auseinander, da das Meer immer wieder dagegenhämmerte. Gestalten mühten sich in der Brandung ab, versuchten, ans Ufer zu kommen. Manche verschwanden unter den aufgewühlten Wassern und tauchten nicht wieder auf. Andere erreichten den Strand, tropfend und erschöpft und zerschlagen, ihre Kleider von den Felsen in Fetzen gerissen. Und die Männer meines Onkels rannten ihnen entgegen.
    Ich sah, wie der blonde Jüngling einen Seemann am Hals packte, ihn nach unten drückte und ihm mit dem Messer mitten in den Rücken stach.
    Es war kein echter Kampf. Auf jeden Überlebenden aus dem Wrack kam ein Mörder am Strand. Blut strömte genauso wie der Regen und färbte die von der Flut zurückgelassenen Tümpel rot. Die Männer gingen wie im Wahn vor, inzwischen in aller Stille; aber dafür war es umso schrecklicher, wie sie ihre Messer aufblitzen ließen und in lebendes Fleisch stießen.
    Nach einer Weile stolperten keine weiteren Gestalten mehr an Land.
    Dann wurde die Fracht angetrieben, große Fässer und Holzkisten, die unterwegs gegen die Felsen geschmettert wurden. Die Männer ließen ihre Waffen fallen – Messer und Schwerter und Speere hätten sie im tobenden Wasser gefährdet – und wateten hinaus, um die Fässer zu packen, ehe sie aufbrechen konnten. Stolpernd und fluchend griffen sie nach den schlüpfrigen Felsen, wann immer es möglich war, um das Gleichgewicht zu halten, und trugen zusammen, so viel sie konnten, indem sie die Fracht teils hinter sich herzogen und teils an Land treiben ließen. Die Sonne hinter den Wolken stieg höher, und ich konnte das klebrige Rot auf den fallengelassenen Klingen erkennen.
    » Du!«, brüllte mich Hartah an. » Hilf mit! Hol Fracht ein!«
    Plötzlich wurde eine Kiste von den Wellen ausgespuckt und fiel auf einen Felsen, der nur wenige Schritte vom Strand entfernt war. Das Holz splitterte und zerbrach. Stoff quoll aus der Kiste und wurde sofort vom Wasser durchtränkt. Rot, golden und blau – die wertvollen Seiden-, Samt- und Brokatstoffe breiteten sich im Wasser aus oder hefteten sich an Felsen, genauso wie meine Kleider am Körper klebten. Die Farben begannen auszulaufen und färbten das Wasser in Töne, die das Meer sonst niemals zeigte: Rot … Gelb … Kobaltblau … Violett … Ich stolperte zur Küste, bis eine Hand auf meinem Arm mich zum Stillstand brachte.
    » Roger! Geh!«
    Meine Tante Jo war auf dem Strand erschienen. Sie musste den Schlammweg herabgekommen sein, nachdem alle anderen die Hütte verlassen hatten – gekommen, um mir zu sagen, wo meine Mutter war … Ich konnte nicht mehr denken. Mit dem Rücken an die Klippen gelehnt, starrte ich sie an wie ein Narr, inmitten der Wrackteile und des Regens und der Stoffe, die den Kieseln fantastische Farben verliehen.
    » Geh!« Sie schob mir etwas zu, und ich nahm es an, ohne nachzudenken. Es war Hartahs Messer, aus dem blutigen Sand geborgen. Sie wollte, dass ich es nahm und weglief, während noch die Gelegenheit dazu bestand. Eine Gelegenheit, um den Ort zu finden, an dem meine Mutter gestorben war, den Pfad der Seelen zu betreten und sie wiederzusehen …
    Endlich kamen meine Füße in Bewegung.
    Ein mächtiges Brüllen erscholl, und Hartah ragte vor uns auf. Ein Teil der beschädigten Stoffe aus dem Wrack hing an
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