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Pfad der Seelen

Pfad der Seelen

Titel: Pfad der Seelen
Autoren: Anna Kendall
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ihm, tropfender blauer Samt, der schief um seine Schultern drapiert war, als wolle er einen Umhang nachahmen. In den Händen hielt er eine metallbeschlagene Holzkiste. Irgendwo hinter mir schrie jemand: » Soldaten! Lauft!«
    Zorn keimte in Hartahs Gesicht auf. Sein Kopf fuhr hoch, um die Klippen nach Soldaten abzusuchen. Über seine rote Nase lief Regen, über eine Prellung auf der Wange. Zorn musste sich immer auf irgendetwas richten. Er brüllte Tante Jo an: » Ich habe dir doch gesagt, dass du oben bleiben sollst!« Er hob die Holzkiste und schmetterte sie ihr gegen den Schädel.
    Ihre feingliedrige Gestalt brach auf den Felsen zusammen.
    Ohne nachzudenken, stieß ich Hartah sein eigenes Messer zwischen die Rippen und drehte es.
    Sein Körper erstarrte. Ein Arm hob sich, um mich zu packen, und ich trat zurück und zog das Messer heraus. Sofort sprudelte ihm Blut aus der Seite – so viel Blut. Es sammelte sich zwischen den Felsen, mischte sich mit dem Regen, spritzte hoch, als Hartah auf die Knie sank, und anschließend, nach einem langen, schrecklichen Augenblick, in dem die Zeit selbst stillzustehen schien, mit dem Gesicht nach unten neben Tante Jo fiel.
    Das Messer fiel mir aus den erschlafften Fingern.
    » Soldaten!«, ertönte es noch einmal, und dann strömten sie den Pfad herab, schlitterten durch den Schlamm, Dutzende von ihnen in der verregneten Dämmerung. Es gab keinen anderen Weg, um den Strand zu verlassen, vom Meer einmal abgesehen, wo das Schiff mit jedem donnernden Brecher der Flut weiter auseinanderbrach. Einige der Strandräuber wehrten sich, aber es war hoffnungslos. Nur zwei von uns wurden gefangen genommen, ich und der Jüngling mit dem blonden Haar, und es stand außer Frage, dass Cat Starling jemals auch nur einen von uns geküsst hätte.

5
    Ich lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden der Lichtung oberhalb des Strandes, an Händen und Füßen gefesselt, mein Mund in die nasse Erde gedrückt. Der blonde Strandräuber lag neben mir, ebenso gefesselt. Der Regen hatte nachgelassen. Soldaten, die in durchnässtes Blau gekleidet waren, liefen umher, und ununterbrochen wurde gerufen, während Pferde, unter denen sich auch Hartahs alter Klepper befand, Wagen vom Strand heraufzogen. Immer wieder bekam ich einen Stiefeltritt gegen die Beine oder in den Bauch, und unter Schmerzen hob ich die gefesselten Arme, um zumindest meinen Kopf bestmöglich zu schützen.
    Weshalb sollten mich die Soldaten der Königin so behandeln?
    Mein ganzes Leben lang hatte mir Hartah von Soldaten erzählt, die Gefangene quälten, aber selbst in meiner Angst wusste ich, dass ich hier nicht gefoltert werden würde. Die Soldaten mussten kein Geständnis erzwingen. Sie würden uns aufgrund der augenscheinlichen Beweise aufhängen.
    » Einen Priester!«, rief der Blonde. » Es ist mein Recht, einen Priester zu sehen, ehe ich sterbe!«
    Zwei Paar Stiefel hielten auf dem Schlammboden an, nur Handspannen von meinem Kopf entfernt. » Er hat recht«, sagte eine Stimme. » So will es das Gesetz.«
    » Und haben sie auch an das Gesetz gedacht, als sie die Frances Ormund haben auflaufen lassen?«, fragte eine weitere Stimme, die rauer war als die erste. » Sir.«
    Die Frances Ormund. Das musste der Name des Schiffes sein. Abermals sah ich die Leichen auf dem Strand, die Wassertümpel, die rot vor Blut waren, und Hartah und die anderen, die Triumphschreie ausstießen, als sie sich die Fracht unter den Nagel rissen, die an Land gespült wurde. Das Morden. Und auch ich hatte gemordet. Das Messer war so mühelos zwischen Hartahs Rippen geglitten wie in Butter oder guten Käse … Und kurz zuvor die schwere Holzkiste, die auf den Kopf meiner Tante gekracht war …
    Meine Gedanken schreckten schaudernd vor beiden Bildern zurück, und vor dem Wissen, dass ich ein Mörder war. Und doch bereute ich es nicht, ihn getötet zu haben. Der Gedanke erstaunte mich. Ich, der ich davor zurückgeschreckt war, eine Ratte zu töten, die in unseren Wagen gekrochen war, oder eine ins Haus eingedrungene Schlange, als wir noch ein Haus besessen hatten. Aber es stimmte. Ich hätte Hartah schon längst töten sollen. Und ich hätte mich jetzt nicht vor dem Tod fürchten sollen. Immerhin wusste ich – ich ganz besonders! –, dass sowohl er als auch ich jenseits des Grabes weiterexistieren würden, im friedlichen Land der Toten.
    Aber ich wollte nicht dorthin. Nicht auf diese Weise, nicht für immer. Was hatte die Gevatterin Humphries zu mir gesagt? »
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