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Mondherz

Mondherz

Titel: Mondherz
Autoren: Christiane Spies
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    Prolog
    Die Wälder der Südkarpaten, November 1444
    D as Pferd zitterte vor Anstrengung nach dem raschen Ritt. Sein Atem stieg in Dampfwolken in die kalte Nachtluft auf. Gábor knotete die Zügel um den Ast einer Eiche, dann bahnte er sich einen Weg zwischen den Bäumen hindurch. Das Laub raschelte unter seinen Füßen und hinter ihm schnaubte die Stute, ansonsten war es still. Er wischte die Zweige beiseite, die sich in seinen Umhang krallten, und trat auf die Lichtung hinaus. Der Wald umringte die Hütte wie ein Heer schweigender Krieger. Für einen Herzschlag hielt Gábor inne. Der alte Mann war zu Hause, er konnte ihn spüren. Im Laufschritt überwand er den Abstand zur Tür.
    »Komm herein, junger Ritter!« Viktors heisere Stimme drang durch die Holzbohlen zu ihm heraus, bevor er klopfen konnte. Gábor ließ die Hand sinken. Wieder einmal hatte er die feinen Sinne des Alten unterschätzt. Er stieß die Tür auf und trat in das Dunkel der Hütte.
    Viktor saß auf seiner Bettstatt, die ausgemergelten Hände auf dem Schoß gefaltet. Schwärze gähnte in der Feuerstelle. Der Alte schien keine Kälte zu spüren, denn er trug nur eine dünne Kutte. Er musterte seinen jungen Besucher von oben bis unten. Sein eisblauer Blick schnitt schärfer durch die Nacht als die Augen einer Eule.
    Das Stirnrunzeln des Alten bestätigte Gábor, welch unheilvolles Bild er bot, und er senkte den Blick vor seinem einstigen Lehrer. Schmutz haftete daumendick auf seinem Harnisch, und Blut und Schweiß hatten seine Kleidung dunkel verfärbt. Der Rabe auf seinem Mantel, das Wappen seines Dienstherrn, war zerrissen.
    »Du bringst schlechte Nachricht«, folgerte Viktor mit starrer Miene.
    Gábor nickte. Der Ernst der Lage wischte alle Gedanken an sein Aussehen hinweg. »Wir haben die Schlacht bei Warna verloren. Die Türken stehen kurz vor den Karpaten, und König Wladislaw ist tot.« Zorn und Furcht ließen seine Stimme abgehackt klingen.
    Viktor verengte die Augen. »Das hätte niemals geschehen dürfen«, zischte er.
    »Dracul hat uns verraten«, presste Gábor hervor, den Kopf auf die Brust gesenkt. »Er hat Johann Hunyadi gefangen genommen und will ihn an die Türken ausliefern.«
    »Graf Hunyadi war unsere einzige Hoffnung.« Viktors Augen blitzten wie Eiskristalle. »Du hättest deine Brüder holen müssen, um ihn zu retten, anstatt zu mir zu kommen.«
    »Ich musste zu Euch. Ihr müsst fliehen. Dracul weiß doch, wer Ihr seid und …«
    »Ich soll fliehen wie ein feiger Hund, während die Christenheit vor dem Verderben steht?« fuhr Viktor auf. Dann wurde seine Stimme gefährlich leise. »Das musst du mir erklären!«
    »Als die Schlacht begann, nutzten Draculs Männer den Tumult, um sich davonzustehlen. Sie überwältigten einen von uns – Peter, den Jüngsten aus Michaels Rudel.« Gábors Finger krampften sich um den Schwertgriff, als er an seinen Kameraden dachte. »Sie nahmen ihn mit nach Tergowisch. Dracul folterte und verhörte ihn.« Er mied Viktors Blick. »Wir konnten ihn nicht retten, die … die Türken kämpften wie Teufel.« Nie würde er vergessen, was er auf dem Schlachtfeld gesehen hatte. »So viele starben. Ein Janitschar verwundete den König tödlich, und Graf Hunyadi befahl den Rückzug. Doch hinter der walachischen Grenze lauerten Hunderte von Draculs Kriegsknechten auf uns. Sie setzten Hunyadi gefangen. Ich sah keine andere Möglichkeit, als zu fliehen. Doch aus einem Versteck hörte ich einen Söldner sagen, dass ein Trupp auf dem Weg zu Euch sei, um Dracul Euren Kopf zu bringen.«
    Für einen Atemzug war es still, dann bewegte sich der Alte mit der lautlosen Schnelligkeit eines Schattens auf Gábor zu. Er packte ihn so hart am Arm, dass der junge Ritter zusammenfuhr. »Ich gehe. Doch nicht ohne die Schriften unseres Volkes. Komm mit.«
     
    Sie stiegen mit raschen Schritten den Berg hinter der Einsiedelei hinauf. Je höher sie kamen, desto häufiger wurde der dichte Baumbestand von Felsen unterbrochen. Wie schweigende Riesen lugten ihre wuchtigen Steinkörper aus dem Dickicht hervor. Der Weg war steil, und die beiden Männer schwiegen, um ihren Atem zu schonen. Hinter ihnen stand der halbvolle Mond tief am Himmel.
    Gábor war seit Jahren, seit dem Ende seiner Ausbildung, nicht mehr hier gewesen. Und doch schien ihm das Hochland immer noch so vertraut, als hätte er es erst letzte Nacht verlassen. Hier hatte sich die Welt nicht weiterbewegt. Er sah zu Viktor, der dem steinigen Pfad leichtfüßig wie
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