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Mondherz

Mondherz

Titel: Mondherz
Autoren: Christiane Spies
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eine Katze folgte. Der Alte schien sich ebenfalls nicht verändert zu haben. Aber wer konnte schon sagen, was in ihm vorging? Seit Gábor ihn kannte, bewegte er sich außerhalb der Zeit und meist auch außerhalb der Gesellschaft von Menschen. Niemand war älter oder stärker als er. Gábor erschauerte. War das die Bestimmung ihres Volkes: entweder im Kampf zu sterben oder sich irgendwann in die Einsamkeit der Wälder zurückzuziehen? Er schob diesen Gedanken lieber beiseite und beschleunigte seinen Schritt.
    Nach dem letzten steilen Anstieg erreichten sie ein kleines Plateau unterhalb des Gipfels. Schroffe, zerklüftete Felsen machten den weiteren Aufstieg fast unmöglich. Viktor ging ohne zu zögern auf eine Felsengruppe zu. Seine Hände fuhren über den Stein, seine Finger, knorrig wie alte Olivenzweige, krallten sich in einen Spalt. Knirschend bewegte sich der Stein. Viktor griff in die entstandene Öffnung und zog ein in Wachstuch eingeschlagenes Bündel heraus. Gábor hörte die Dokumente darin knistern. Der Alte verstaute das Bündel unter seiner Kutte, dann schob er den Stein wieder zurück. Die Öffnung verschwand, als hätte es nie ein Versteck gegeben.
    Viktor verharrte einen Moment, dann drehte er sich um und trat an den Rand des Plateaus. Gábor stellte sich neben ihn. Unter ihnen stachen Baumwipfel schwarz in den Nachthimmel, und mehr als einen Tagesmarsch entfernt flackerten Lichter am Horizont. Aus der Ferne sahen sie trügerisch unschuldig aus.
    »Die Türken brennen die Dörfer nieder.« Gábor ballte die Fäuste. Verzweiflung legte sich wie ein Ring aus Eisen um sein Herz. »Dracul, der Christenverräter, lässt ihnen freie Hand.«
    Viktor schüttelte den Kopf und bedeutete ihm zu schweigen. Der Jüngere schloss widerstrebend den Mund. Die Stille, einzig unterbrochen vom Wind, der in den Bäumen unter ihnen rauschte, dröhnte in seinen Ohren. Warum waren sie noch hier? Sie hatten keine Zeit! Graf Hunyadi benötigte ihre Hilfe, und Draculs Söldner konnten jeden Augenblick eintreffen.
    Nach einer Weile, die ihm ewig erschien, begann Viktor zu sprechen. »Seit vielen Hundert Jahren hat unsere Gemeinschaft die Aufgabe, das Abendland zu schützen.« Er starrte in die Dunkelheit hinaus. »Jetzt scheint es, dass wir versagt haben.«
    Gábor zuckte zusammen. Noch nie hatte der Alte von Scheitern gesprochen.
    Viktor wandte sich zu ihm um. In seinen Augen spiegelte sich der milchigweiße Mond. »Der Sultan herrscht inzwischen vom Schwarzen Meer bis nach Albanien«, sprach er weiter. »Der ungarische König ist tot, der bosnische König strauchelt, und nun ist durch Verrat auch noch die Walachei gefallen.«
    Seine Worte gruben sich wie Klauen in Gábors Gedanken. Der Ritter presste die Lippen zusammen. Viktor war der Älteste, er durfte ihm nicht widersprechen. Doch er wollte nichts hören, was so klang, als sei ihre Niederlage endgültig.
    »Vielleicht sind wir verloren, doch noch haben wir nicht alle Mittel eingesetzt«, fuhr Viktor fort. Seine Augen wurden dunkel, als er sie zu Schlitzen verengte. »Unser Volk hat noch eine Waffe. Sie könnte die Türken endlich den Geschmack der Verzweiflung lehren.«
    »Welche Waffe?«, fragte Gábor atemlos.
    Viktor bleckte die Zähne. »Die Prophezeiung der heiligen Agnes«, knurrte er. »Es ist kein Zufall, dass sie sich bald zum fünfhundertsten Mal jährt. Die Verdammnis der Welt hat sie vorhergesagt, und Gott ist mein Zeuge, dass ebenjene uns nun bevorsteht.«
    Gábors Hoffnung verflog jäh. Bei allen Wölfen, das konnte der Alte nicht ernst meinen. Er kannte das brüchige Pergament natürlich, dessen Tinte bereits verblasst war. Viktor hatte es ihm im ersten Jahr seiner Ausbildung gezeigt. Eine junge Nonne hatte auf dem Totenbett die Verdammnis der Welt prophezeit. Nur eine Frau könne sie retten, war ihre Weissagung gewesen, eine Frau mit zweigestaltigem Blut. Und ausgerechnet Viktor, der Frauen mit der Abscheu eines Mönchs betrachtete, glaubte daran? Gábor schüttelte den Kopf. Eine solche Frau konnte es nicht geben. Und selbst wenn – mit ihr könnten sie ein paar abergläubische Bauern verscheuchen, nicht aber das türkische Heer.
    Viktor schien seine Bedenken zu spüren. Seine Finger krallten sich in Gábors Arm. »Du weißt, dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde, als du jemals begreifen kannst.« Er zwang Gábor mit einem Ruck, ihn anzublicken. »Du kennst die Magie der Zigeuner und hast die dunklen Talente der Assassinen erlebt. Und wie willst du
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