Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Titel: Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
Autoren: Markus Kammer
Vom Netzwerk:
KAPITEL 1
     
    Elsa war ein blasses Mädchen mit langen, schwarzen Haaren, einer großen Nase und seltsamen Augen. Diese Augen waren den Istländern unheimlich, selbst Elsa fiel es manchmal schwer, in den Spiegel zu sehen. Ihre Augen hörten nicht auf, sie waren wie Löcher, die in die Dunkelheit führten. Aus dieser Dunkelheit kam ein Wind, der die anderen Menschen unangenehm im Nacken kitzelte. Nur Elsas Eltern konnten sich dieser Wirkung entziehen.
    Elsa wurde entführt, als sie dreizehn Jahre alt war. An jenem Herbsttag lief sie wie so oft in die Hügel, um zuzusehen, wie die Krähenschwärme in der Luft ihre Kreise zogen. Es waren grüne Hügel mit kleinen, verkrüppelten Bäumen und einem grauen Himmel darüber. Manchmal hatte Elsa das Gefühl, sie könne in dieser Abgeschiedenheit Dinge sehen, die es nicht gab: Mauern einer eingestürzten Kapelle oder einen verwilderter Garten. Manchmal tauchte in der Ferne ein Schloss aus dem Nichts auf. Dabei konnte es keine Schlösser geben in Istland. Istland war das Land der geschichtslosen Hügel, der Autos, der neuen Städte. Es war ein junges Land.
    Elsa hatte auch schon merkwürdige Menschen gesehen. Männer in Ledermänteln und Reiter mit Helmen, aber nicht solche wie diese, die an jenem Tag hinter einer Hügelkuppe hervorkamen und Elsa einkreisten. Es ging alles sehr schnell: Die Männer sprangen auf sie zu, ergriffen sie und packten sie auf ein Pferd. Ihr Gesicht wurde in rote Mantelfalten gedrückt und das fühlte sich erschreckend kalt und echt an. Sie ritten mit ihr in einen unbekannten Wald und von dort in ein Ackerland, das wenig istländisch aussah. Die ganze Zeit spürte Elsa eine Faust in ihrem Rücken, ein Loch in ihrem durchgeschüttelten Magen und einen Abgrund in ihrer Seele. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht und das Schlimme daran war: Sie hatte immer geahnt, dass so etwas mit ihr passieren könnte. Die Möglichkeit, dass ihre vertraute, harmlose Welt zerriss und einer anderen, gefährlicheren Wirklichkeit Platz machte, hatte schon immer in ihr existiert. Elsa musste an ihre Mutter Puja denken. Die kochte gerade das Mittagessen und wenn es fertig war, würde sie auf der Küchenbank sitzen und auf ihre Tochter warten. Wie es gerade aussah, würde ihre Tochter nicht kommen. Eigentlich hatte Elsa Schlimmeres zu befürchten als das, aber die Vorstellung vom leer bleibenden Teller auf dem Küchentisch machte sie besonders unglücklich.
    Der unbequeme Ritt endete im Innenhof des Schlosses, das Elsa schon ein paar Mal aus der Ferne gesehen hatte. Ohne Erklärung, ohne sie überhaupt anzusehen, holte man sie vom Pferd, schubste sie endlose Gänge entlang und dann eine Treppe hinauf, die im Kreis und immer wieder im Kreis nach oben führte. Am Ende der Treppe gab es ein Zimmer, in das Elsa gestoßen wurde, und dann wurde die Tür hinter ihr zugesperrt.
     
    Das Gefängnis war hübsch. Es war ein rundes Turmzimmer und es gab sogar einen Balkon, auf den Elsa gehen konnte, was sie auch gleich tat. Hier oben wehte ein warmer Wind, für den sie zu herbstlich angezogen war. Ihr wurde ein bisschen schwindelig, als sie aus der Höhe nach unten auf die Erde schaute. Sie hielt sich an der Mauer fest und bestaunte die kunstvoll angelegten Gärten unterhalb. Nicht nur, dass sie beeindruckende Muster bildeten, sie blühten auch kräftig, als sei der Sommer noch nicht vorbei. Außer der Jahreszeit gab es noch mehr, das nicht stimmte. Die Soldaten, die Gärtner, die Damen, die da unten herumspazierten, sahen zu mittelalterlich aus. Die Dörfer weiter draußen, am Rand der kleinen, schmalen Felder, waren winzig und chaotisch angeordnet. In Istland war alles viel großflächiger und die Straßen wie mit dem Lineal gezeichnet. Dann war da der Wald, durch den Elsas Entführer geritten waren. Einen solchen Wald gab es zu Hause nicht, schon gar nicht so einen großen, der bis zum Horizont reichte. Dort hinten schließlich, am Rand der Welt, ragten die kahlen Spitzen blauer Berge in den Himmel. Spätestens jetzt musste Elsa einsehen, dass sie nicht mehr in Istland war. Doch wo war sie dann?
    „ In Sommerhalt“, erklärte ein Mädchen namens Tinka, das am späten Nachmittag kam, um Elsa ein Stück Brot, eine brennende Lampe und einen Nachttopf zu bringen. Tinka trug eine Haube, in der sie alt aussah, und dazu machte sie ein ängstliches Gesicht.
    „ Du bist in Sommerhalt im Schloss Hagl als Gefangene von König Nada. Du bist hier, weil du mit dem Raben gekommen bist. Das habe
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher