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Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Titel: Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
Autoren: Markus Kammer
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der König frei?“, fragte Elsa.
    „ Der Untersuchungsmeister beschäftigt sich mit dem Fall.“
    Mehr war aus Tinka nicht herauszubekommen, man hatte ihr wohl verboten, über den Raben zu reden. Trotzdem mochte Elsas Frage etwas bewirkt haben, denn um die Mittagszeit kam ein Mann, der sie ausfragte. Er schritt im Zimmer auf und ab, fragte nach ihrem Alter, ihrem Namen, ihrem Geburtsort. Wie sie hierhergekommen sei und was sie vorhabe.
    „ Ich habe nichts vor“, sagte Elsa. „Sagen Sie mir lieber, warum ich hier bin!“
    Der Mann blieb stehen, starrte sie aus schwarzen Raubvogel-Augen an und ging weiter. Sie betrachtete ihn genauer. Er hatte schwarze, leicht ergraute Haare und war gekleidet, wie man sich in Istland die Dichter früherer Epochen vorstellte: Er trug eine längere Jacke aus braunem Samt, knielange Hosen, darunter schwarze Strümpfe und von Lehm verkrustete Schuhe, die nicht zum Bild des Dichters passten. Seine Fingernägel waren schwarz gerändert, als habe er in der Erde gewühlt und sich hinterher nicht die Hände gewaschen. Er ging auf ihren Einwand nicht ein, was sie ärgerte. Er fragte, ob sie jemals außergewöhnliche Fähigkeiten an sich entdeckt habe.
    „ Nein!“
    Ob sie auf andere Menschen unheimlich oder sonderbar wirke.
    „ Nein, woher soll ich das überhaupt wissen?“
    Ob sie in ihrer eigenen Welt wie eine Fremde leben würde.
    „ Nein, nein, nein.“ Bevor er wieder den Mund aufmachen konnte, fragte sie zurück: „Warum haben Sie so schmutzige Finger?“
    Wieder ein Raubvogelblick. Länger diesmal. Der Blick dieser Augen schien die Zeit anzuhalten. Elsa begriff: Dieser Mann kam gar nicht vom König. Wenn er überhaupt ein Mann war und nicht etwas ganz anderes. Ihre Befürchtungen bestätigten sich, als der Mann sehr plötzlich verschwand. Auf einmal war er weg und kein Krümel Erde im Raum ließ darauf schließen, dass er mit seinen schmutzigen Schuhen hier herumgelaufen war.
    Elsas Beine zitterten. Noch nie hatte sich ein Mensch vor ihren Augen in Luft aufgelöst. Mal abgesehen davon, dass es normalerweise unmöglich war, bedeutete es vor allem Gefahr: Dieser Mann musste der Rabe gewesen sein, der unsichtbare Mörder, der Pfeile auf Könige abschoss und kluge Frauen entführte. Er konnte jederzeit wieder auftauchen und mit ihr machen, was er wollte. Das einzige, was sie beruhigte, war, dass er gar nicht wie ein Mörder ausgesehen hatte. Sie starrte noch eine zeitlang aus dem Fenster, dann nahm sie ‚Bolhins Reisen’ wieder auf, in dem sie vorher schon gelesen hatte. Bald gelang es ihr, sich wieder auf die Geschichte zu konzentrieren, und da ging es ihr schon viel besser. Sie hörte auch auf zu zittern.
    Das Buch wurde allmählich spannender, da der Reisende zur zweitwichtigsten Persönlichkeit des fremden Landes aufstieg. Ein Bürgerkrieg brach aus, bei dem Bolhin erst die eine, dann die andere Seite gegen sich aufbrachte. Schließlich verließ er das Land mit einem Ruderboot. Sein Haus, seine Ländereien, seine Untergebenen, seine Verlobte – all das musste er zurücklassen. Das einzige, was er mitnahm, war eine Muschel. Eine der seltensten überhaupt.
     
    Am Tag darauf wurde Elsa noch vor der Dämmerung aus dem Schlaf gerissen. „Aufstehen, mitkommen“, sagte jemand. Sie zog sich an, packte ‚Bolhins Reisen’ in ihre Rocktasche und stolperte zwischen den Schatten fremder Männer die Treppe hinab. Im Hof erwartete sie der Befehlshaber der Wache.
    „ Du gehst mit meinen Leuten hier“, sagte er und zeigte auf zwei Riesen an seiner Seite. „Wohin?“, fragte sie.
    „ Da entlang“, sagte einer der Riesen und hielt ihr einen Mantel hin, den sie anziehen sollte.
    Sie fror trotz des zu großen Mantels, den sie angezogen hatte, und die beiden Riesen marschierten zu schnell für sie. Nach kurzer Zeit taten ihr die Beine weh, sie bekam nicht genug Luft und musste trotzdem weitergehen. Als der Morgen hellgrau wurde, erkannte Elsa, dass sie sich dem Ort näherten, an dem sie entführt worden war: Sie kamen zu der Ruine in den Zerfurchten Wiesen – dort, wo angeblich der Rabenmann gesehen worden war. Das machte ihr Mut. Erwartungsvoll rannte sie auf die eingestürzten Mauern zu. Sie glaubte ganz sicher, sie müsste nur über die taunasse, aufgeworfene Erde springen, um auf zauberhafte Weise nach Istland zurückzukommen. Doch nichts dergleichen geschah.
    Während sie hin- und herlief in der verzweifelten Hoffnung, dass ein Wunder geschähe, standen ihre Aufpasser still und
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