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Der Menschenspieler

Der Menschenspieler

Titel: Der Menschenspieler
Autoren: Will Lavender
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Außerordentliches Literaturseminar erschüttert den kleinen Campus in Vermont
    Von Ethan Moore, Redakteur, Jasper Mirror
    9. Januar 1994
    Mit 5 zu 4 Stimmen hat der Fakultätsvorstand des Jasper College einen umstrittenen Abendkurs genehmigt.
    LIT 424: Lösung eines literarischen Rätsels wird vom berühmten Professor und Literaturwissenschaftler Dr. Richard Aldiss geleitet. Aldiss nahm Ende letzten Jahres Kontakt zum Jasper College auf und bestand darauf, an diesem Campus zu unterrichten, sollte er seine Lehrtätigkeit wiederaufnehmen. Er wird via Satellit vom Rock Mountain Gefängnis aus unterrichten, wo er wegen des brutalen Mordes an zwei Studentinnen der Dumant University im Jahr 1982 zwei Mal lebenslänglich absitzt. Er darf nicht über seine Verbrechen reden und die Namen der Opfer nicht nennen. Der Kurs ist offen für neun Studenten, die jeweils extra vom Stipendiatenprogramm der Literaturwissenschaft ausgewählt werden.
    Einige sind strikt gegen das Seminar und den Professor. Dr. Daniel Goodhurn, ein Vergil-Spezialist in Dumant, hält es für einen schrecklichen Fehler des Jasper College, Aldiss wieder zum Unterricht zuzulassen.
    »Ist Richard Aldiss ein Genie?«, fragte Goodhurn. »Natürlich. Aber was dieser Mann zwei unschuldigen Frauen an seinem Institut angetan hat, geht über das Böse weit hinaus. Ich frage Sie: Was werden die Studenten in Jasper von diesem Monster lernen? Richard ist ein verschlagener, hinterlistiger Mensch. In seinem Seminar wird es sicher nicht um Literatur gehen. Was er wirklich damit bezweckt, wird erst spät im Semester deutlich werden – und dann kann es bereits zu spät sein.«
    Die Fürsprecher dieses Abendkurses sind indes vom Gegenteil überzeugt.
    Dr. Stanley M. Fisk, emeritierter Professor des Jasper College, sagt, dass Richard Aldiss »einem Studienprogramm, das sehr steif geworden ist, neues Leben einhauchen wird. Der Mann und seine Arbeit, besonders seine Forschung zu dem zurückgezogen lebenden Schriftsteller Paul Fallows, sind wirklich bahnbrechend. Unsere Studenten hier in Jasper werden von dem großartigen Professor eine Frischzellenkur erhalten. So einfach ist das aus meiner Sicht. Aldiss wird ihr Denken über Bücher revolutionieren«.
    Das Seminar wird am ersten Abend des Wintersemesters beginnen. Die neun Studenten sind ausgewählt worden und können die Einladung ablehnen, sollten sie dies wünschen.

Erster Kurs
    1994
    1
    Kurz nach Einbruch der Dunkelheit wurde ein Fernsehgerät hereingerollt, in dem der Mörder erscheinen würde. Es wurde vorn in den Hörsaal gestellt, leicht versetzt von der Mitte, damit die Studenten weiter hinten auch etwas sehen konnten. Zwei Männer in Handwerkerkleidung überprüften den Satellitenzugang und die Mikrofone, dann verschwanden sie so leise, wie sie gekommen waren. Es war jetzt fünf Minuten vor Kursbeginn, und alles war bereit.
    Es war der erste Kurs dieser Art, und seine Neuheit – oder vielleicht sein Geheimnis – machte ihn zu dem am meisten diskutierten, der jemals am winzigen Jasper College angeboten wurde. Wie vom Collegepräsidenten festgelegt befanden sich neun Studenten im Hörsaal. Sie waren die Besten der Besten im Grundstudium in Jasper. Jetzt, am ersten Abend des Semesters, warteten sie gespannt darauf, dass ihr Professor auf dem Bildschirm auftauchte.
    Das Seminar hieß LIT 424: Lösung eines literarischen Rätsels . Es wurde abends angeboten, weil das die einzig mögliche Zeit war, die einzige Stunde, die der Gefängnisdirektor dem Mörder zum Unterricht freigab. Wenn man den Gerüchten Glauben schenkte, dann würde er aus einer Gummizelle heraus unterrichten. Andere behaupteten, er würde in einer Bluebox sitzen, und um ihn herum würde ein Pult projiziert, um die Illusion eines Klassenzimmers zu erschaffen. Der Rest behauptete, er würde einfach nur in einem orangefarbenen Overall an einen Stuhl gefesselt, weil das Gesetz alles andere verbot. Sie mussten sich daran erinnern, was dieser Mann getan hatte, sagten diese Leute. Sie durften nicht vergessen, wer er war.
    In dem Raum staute sich die Wärme der dicht gedrängten Körper. Die Tafel schien zu glitzern, obwohl es draußen bitterkalt war. Eine ruhige Nacht in Vermont. Abgesehen von den Demonstranten, die im vorgeschriebenen Abstand von zweihundert Metern vor der Culver Hall standen, wo der Kurs stattfand. Und zwar im Keller, weil die Verantwortlichen in Jasper nicht wollten, dass die Demonstranten sehen konnten, was auf dem Fernsehbildschirm
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