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Lesereise Mallorca

Lesereise Mallorca

Titel: Lesereise Mallorca
Autoren: Helge Sobik
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Joan Miró und der Mann mit der Mandarinenkiste
Spuren und Erinnerungen: Im Atelier des katalanischen Künstlers, der von 1956 bis 1983 auf Mallorca lebte
    Auf den Arbeitstischen liegen noch immer halb ausgequetschte Farbtuben scheinbar wahllos herum. In angelaufenen Gläsern stehen Pinsel, als wäre er nur eben mal hinausgegangen, um gleich zurückzukehren. Selbst die Stühlchen mit ihren geflochtenen Sitzflächen und die kleinen Hocker, auf denen er saß, um jeden Fortschritt eines Gemäldes in Ruhe zu betrachten – alles steht zwischen den unfertigen und entsprechend noch unsignierten Werken im Atelier in den Hügeln von Cala Major am Stadtrand von Palma, als wäre Joan Miró gerade erst aufgestanden, um ein wenig unter den Pinien auf seinem zwölftausend Quadratmeter großen Grundstück zu spazieren.
    Dabei ist er schon am Weihnachtstag 1983 gegangen und bald dreißig Jahre lang nicht zurückgekehrt. Mirós Atelier konserviert den Augenblick seiner letzten Arbeitsstunde, den Moment seines Todes. Es ist mitsamt der Einrichtung, vielen Details und den unfertigen Bildern so erhalten geblieben, wie der Künstler es hinterlassen hat. Nicht mal die Farbkleckse und -ränder auf dem Fußboden hat eine übereifrige Reinmachekraft der Nachwelt vorenthalten und womöglich weggewischt.
    Im Flurbereich ist heute ein dünnes Seil gespannt, das die vielen Besucher zurückhält. Nur von dort aus dürfen sie in den Raum schauen, wo der Meister wirkte. Fast alle tun es mit Andacht. Sie flüstern oder schweigen, und nur ab und zu klickt der Auslöser eines Fotoapparats. Und so strahlt der große, helle Saal heute die Würde einer Kirche aus, ohne aber die Kälte eines Mausoleums zu haben.
    Für Miró war das seine Höhle, sein Reich, sein Rückzugswinkel. Der Ort, wo sich seine Schaffenskraft entlud. Er wollte dabei unbeobachtet sein, ließ anders als beim Zeichnen oder Gravieren nicht mal seine Frau Pilar Juncosa herein, wenn er am Malen war. Selbst im Alter pflegte er eiserne Disziplin, begann den Arbeitstag frühmorgens um fünf und schritt dafür die Treppe vom Wohnhaus Son Abrines weiter oben am Hang hinab, über den Hof und weiter auf die Empore des Ateliers, von dort an ein paar Arbeitstischen vorbei eine Ebene tiefer in den Saal, in dem er fortan seinen Leinwänden mit dem Pinsel Leben einhauchte.
    Oft hat er dort gesessen, auf die halb fertigen Werke geschaut, Änderungen erwogen, über nächste Schritte nachgedacht, ehe er neuerlich zum Pinsel griff und einen weiteren Strich zog, eine Farbe auftrug, ein Bild ein kleines Stück weiter voranbrachte: »Es sprudelte nicht aus ihm heraus, auch wenn es am Ende so aussehen mag«, beschreibt Magdalena Aguiló Victory, bis vor Kurzem Direktorin der Fundació Pilar i Joan Miró a Mallorca: »Er musste sich jedes Bild erarbeiten.« Den Eindruck von Leichtigkeit zu erwecken, ist immer eine besonders schwierige Aufgabe.
    Tatsächlich war es oft ein langwieriger Prozess, und immer arbeitete er an vielen Gemälden gleichzeitig. Sie umgaben ihn im Atelier, und wenn der für niemand anderen erkennbare Moment für eines davon gekommen war, nahm er es sich vor und malte daran weiter, ehe er sich wieder hinsetzte, mit Blicken in jenem Bild versank und nachdachte: »Ich arbeite wie ein Gärtner«, hat er einmal gesagt. »Ich bin wie ein Insekt, wie eine Biene und bestäube die unterschiedlichen Pflanzen im Garten nach und nach, wenn es für jede einzelne davon so weit ist.«
    Manchmal nehmen die Aufseher heute das Absperrseil zwischen Flur und Ateliersaal zur Seite, wenn Freunde zu Besuch kommen, die mitten ins Allerheiligste dürfen – Leute, die Miró nahe waren und es ihm am Ort seines Wirkens auch bald dreißig Jahre nach seinem Tod noch ab und zu sein möchten. Pere Serra ist so jemand. Er ist gern im Atelier – gerne dort, wo er mit Miró auf den einfachen Hockern fast auf dem Fußboden zusammengesessen hat. Pere Serra ist der Mann mit der Mandarinenkiste. Wie er das wurde, wie sich die Freundschaft zwischen ihm und dem längst weltberühmten Maler mit fünfunddreißig Jahren Altersunterschied entwickelte, ist eine lange Geschichte.
    Serra ist inzwischen selber alt geworden, seit er seine Mandarinenkisten vor der Haustür von Son Abrines in Cala Major abgestellt, seit er regelmäßig Orangen und Zitronen gebracht hat. Es ist Zeit vergangen, seit 1957 eine Freundschaft begann, die sechsundzwanzig Jahre lang halten und immer enger werden sollte. Don Pere Serra ist heute dreiundachtzig,
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