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Die Hüterin der Quelle

Die Hüterin der Quelle

Titel: Die Hüterin der Quelle
Autoren: Brigitte Riebe
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EINS
    R ekas Fiepen drang in ihren Schlaf und ließ sie unruhig werden. Als es immer durchdringender wurde, erwachte sie.
    Im Traum war Ava mit ihm zusammen gewesen, wieder einmal. Sie hatte das Aroma von frischem Holz wahrgenommen, das von seinen Kleidern ausging, die Hitze seiner Haut. Ohne Forderung oder Ungeduld hatte er sich ihr genähert, mit wissenden Händen und einem schmerzlichen Zug um den Mund, den sie nicht zu enträtseln wusste, bis sie in seiner Umarmung verschwunden war. Ob der Krippenschnitzer heute auf den Wochenmarkt kommen würde?
    Reka war verstummt. Stattdessen stupste er nun mit seiner Schnauze so lange gegen die Decke, bis sie die Hand ausstreckte und ihn streichelte.
    »Du weißt genau, dass du nicht ins Bett darfst«, sagte sie, da war er schon neben ihr. Über den Winter war er mager geworden. Sie spürte die Rippen unter der Haut, als sie ihn berührte, betastete die dünnen Flanken, den eingefallenen Bauch. Sein Fell war feucht und verströmte einen unverwechselbaren Geruch. Er war ein Raubtier mit messerscharfen Zähnen, wenngleich er ihr gehorsamer folgte als ein Hündchen. Als Welpen hatte sie ihn gefunden, in einem verlassenen Fuchsbau, unten am Fluss, mit trübem Blick, halbtot vor Hunger. Sie hatte gewartet, ob die Fähe nicht doch zurückkam, aber als die Zeit verstrich und nichts geschah, nahm sie den Winzling an sich und trug ihn nach Hause.
    Sie hatte richtig gehandelt, das wusste sie spätestens am nächsten Morgen, als sie beim Kräutersammeln im Wald entdeckte, was zwei unter Laub versteckte Ottereisen aus seiner Mutter gemacht hatten. Sie gab ihm einen Namen aus ihrer alten Heimat und sorgte dafür, dass er groß und stark wurde.
    Die Leute aus der Stadt verstanden nicht, was sie verband. Sie wandten sich ab, wenn sie sie zusammen erblickten, manche voller Scheu, andere mit unverhülltem Widerwillen. Ava machte sich nichts daraus.
    Egal, was sie tat, sie bot ohnehin Anlass zu vielerlei Spekulationen. Man munkelte, in mondhellen Nächten steige sie als Menschenfrau in die Regnitz, um anschließend als Otterweibchen das gegenüberliegende Ufer zu erklimmen. Sie trage ein Fellkleid, das sie abstreifen könne, sobald es Tag werde, verstünde sich auf die Sprache der Tiere. Mühelos wandere sie zwischen den Welten. Kein Kraut sei ihr unbekannt, sogar gegen Impotenz und Unfruchtbarkeit wisse sie den richtigen Trank. »Die Otterfrau« nannten sie die Leute in Bamberg, und sie war stolz darauf, betrachtete es als Auszeichnung, nicht als Beschimpfung, auch wenn es sie einsam machte.
    Sie hatte aufgehört zu widersprechen, lange schon. Im Wald und am Fluss war sie zu Hause. Geschlossene Häuser mit engen, dumpfen Zimmern bereiteten ihr Unbehagen. Und sie liebte diese Tiere, ihre kraftvollen, gedrungenen Körper, die im Wasser heimisch waren, aber sich ebenso schnell an Land bewegen konnten.
    Rekas Augen waren schwarz und lagen weit auseinander. Er legte eine Pfote auf ihren Arm, eine auffordernde Geste, die sie jedes Mal rührte.
    »Das heißt, ich soll aus dem Bett, um endlich nach den Fischen zu sehen.« Er bekam einen liebevollen Klaps. »Und Recht hast du, ich bin die langweilige Grütze ebenso leid wie du!«
    Sie schob ihn zur Seite und stand auf. Ein Windstoß fegte durch die Ritzen des Hauses, heulte durch Küche und Kammer. Ava fröstelte, als die überraschende Kälte mit kleinen Nadelstichen ihre Haut traf. Gestern Abend noch war es so mild gewesen, dass sie nackt unter die Decke geschlüpft war, und jetzt konnte es ihr gar nicht schnell genug gehen, das Winterkleid überzustreifen. Zitternd schlang sie zusätzlich ein Tuch um die Schultern.
    Reka zwängte sich vor ihr durch die angelehnte Türe. Sie lief ihm nach und blieb nach ein paar Schritten stehen.
    Ihre Lungenflügel füllten sich mit kalter Luft. Dabei war es schon Ende Mai, einige Tage nach Christi Himmelfahrt. Gestern noch hatte alles geblüht, war prall, voller Verheißung gewesen. Jetzt hatte Frost das Laub geschwärzt, mit weißen Linien die Konturen nachgezeichnet. Reif bedeckte das Gras, ließ ihre bloßen Füße taub werden.
    Überall Zeichen der Zerstörung, abgestorbene Blumen, geknickte Zweige, winzige Schwarzdrosseln, die viel zu früh aus dem Nest gefallen waren und nun leblos am Boden lagen, verkrümmte, dunkle Federknäuel auf dem körnigen Eis.
    Sie erreichten den Hollerbaum. Nackt reckten sich die Äste in den bleiernen Himmel; all die frischen grünen Blätter waren abgefallen, lagen nun schwarz
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