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Der versunkene Wald

Titel: Der versunkene Wald
Autoren: Michel Rouzé
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wie fast nirgendwo sonst“, erklärte Pierre. „In ganz Europa wirkt die Anziehungskraft des Mondes nicht so stark wie gerade hier.“
    „Und warum? Der Mond ist doch überall gleich weit von der Erde entfernt!“
    „Natürlich. Das stimmt schon. Aber du mußt dir die Karte ansehen: Der Ärmelkanal ist wie ein zwischen Frankreich und England eingezwängter Kessel. Die Flutwogen, die vom Atlantik hereinströmen, pressen sich zwischen den beiden Küsten zusammen, die sich ja beim Pas de Calais sehr nahekommen. Dadurch wird eine riesige Wassermenge in unseren Golf abgedrängt.“
    „Und dieses ganze Wasser will dein Vater mit seinem Staudamm abfangen?“
    „Ja. Stellt euch vor, wie großartig das wäre! Die ganze Bucht von Saint-Malo bis an die äußerste Spitze des Cotentin soll abgesperrt werden, und die englische Insel Jersey würde einbezogen. Dann gäbe es eine Straße hinüber, und man könnte mit dem Wagen von Cherbourg oder Saint-Malo oder auch von Granville nach Jersey fahren. Bei Granville würde eine Zwischenmole gebaut werden. Bei steigender Flut strömt das Wasser durch mehrere große Schleusen ins Innere des Reservoirs ein, und wenn die Flut sinkt, speisen die zurückdrängenden Wogen, durch mehrere Becken von verschiedener Höhe reguliert, die großen Turbinen des Kraftwerkes. Die Anziehungskraft des Mondes, in ,blaue Kraft‘ verwandelt, würde jede Fabrik und jedes Haus im ganzen Westen von Frankreich, ja, sogar Paris mit billigem Strom versorgen …“
    „Aber wie kann man Dämme so weit ins Meer hinaus bauen?“ fragte Raymond, der den Dingen auf den Grund gehen wollte. „Man würde doch Unmengen von Stein und Zement brauchen, um bis zum Meeresboden zu kommen!“
    „Mein Vater sagt, gerade dieser Teil des Ärmelkanals sei gar nicht so tief, wie man immer glaubt, nicht mehr als zehn Meter im Höchstfall. Es ist noch gar nicht sehr lange her, daß das Meer bis hierher nach Avranches kommt: Als die Römer Gallien erobert haben, war die Bucht von Saint-Michel Festland. In alten Handschriften kann man lesen, daß damals der Mont Saint-Michel und Tombelaine steile Felsenhöhen mitten in dichtem Urwald waren.“

    „Hier, wo die Bucht ist, soll Wald gewesen sein?“
    „Ja. Er hieß der Wald von Scissy oder von Quokelunde. Wir können heute leider nicht mehr zusammen in das Museum von Avranches gehen. Dort wird ein Bericht aufbewahrt, den ein Mönch aus der Abtei von Saint-Michel in Versen niedergeschrieben hat. Er hieß Guillaume de Saint-Pair.“
    „Und was erzählt er da, dieser Mönch?“
    „Wartet, ich muß erst überlegen. Es ist nicht unser heutiges Französisch …“
    Pierre blinzelte mit den Augen und dachte anscheinend scharf nach. In Wirklichkeit hatte er die Verse, die sein Vater so oft zitiert hatte, gut im Kopf. Und es machte ihm Vergnügen, sie herzusagen:
„Desouz Avrenches vers Bretaigne
    Eirt la forest de Quokelunde
    Dont grant parole eirt par le munde.
    Cen qui or est meir et areine
    En icet tens eirt forest pleine
    De meinte riche venaison
    Mes ore il noet li poisson …“
    Raymond erklärte, er hätte kaum ein Wort verstanden, und die anderen stimmten ihm bei.
    „Gut also“, sagte Pierre, „es heißt ungefähr so: ,Unter Avranches, zur Bretagne hin, lag der Wald von Quokelunde, der in der ganzen Welt hochgerühmt war. Dort, wo jetzt Meer und Sand ist, war ein Wald voller herrlichen Wildes, aber nun schwimmen darin die Fische …“
    „Und wie kommt es, daß der Wald verschwunden ist?“ fragte der kleine Jean Ternet, der die Geschichte außerordentlich aufregend fand.
    „Wahrscheinlich durch eine Sturmflut wie die, die im Februar 1953 einen Teil von Holland überschwemmt hat. Es wird behauptet, daß der Wald in einer einzigen Nacht zerstört wurde, als die Hochfluten des Jahres 709 hereinbrachen. Aber das sind wohl Legenden. Wenn es den Wald von Quokelunde wirklich gegeben hat, ist er schon viel früher verschwunden, denn man weiß, daß im Jahre 709 der Mont Saint-Michel schon eine Insel war. Aber er hieß damals noch nicht der Mont Saint-Michel. Er hieß der Mont Tombe, der Gräberberg.“
    „Der Gräberberg? Was für ein sonderbarer Name! Beinahe unheimlich, findet ihr nicht?“
    „Nach den alten keltischen Sagen trug eine unsichtbare Barke die Seelen der Toten zu kleinen Inseln, die man die ,Meergräber‘ nannte. Der Mont Saint-Michel war eines davon und sein Nachbar, der Felsenhügel von Tombelaine auch. In dem Namen hat sich der alte Glauben noch
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