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Der versunkene Wald

Titel: Der versunkene Wald
Autoren: Michel Rouzé
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erhalten.“
    „Aber wie kam es denn wirklich, daß dort, wo einmal die Vögel im Wald von Quokelunde sangen, jetzt Fische herumschwimmen?“
    „Mein Vater meint, daß der Einbruch des Meeres sich allmählich vollzogen hat, während einer langen Zeit, in hundert Jahren oder mehr. Langsam hat das Meer sich immer weiter in das Land hineingefressen. Vielleicht ist es eines Tages ein gewaltiges Stück vorwärts gegangen, weil ein mächtiger Sturm von Westen her gerade mit einer Hochflut zusammentraf. Das würde die Geschichte von der Sintflut erklären. Es ist nicht sicher erwiesen, daß die Bucht früher ein Wald war. Aber es steht fest, daß in vielen Küstengegenden von Frankreich das Ufer sich heute noch langsam nach dieser oder jener Richtung verschiebt. Wenn man nachweisen könnte, daß es diesen berühmten Wald wirklich gegeben hat, dann wäre das von größtem Interesse, sagt mein Vater. Das würde bei den Studien über die Schwankungen des Meeresspiegels im Ärmelkanal von Bedeutung sein. Auch für den großen Dammbau wäre eine solche Kenntnis wichtig, weil dann die möglichen Uferverschiebungen in den nächsten fünfzig oder hundert Jahren besser zu errechnen wären.“ Während Pierres Erklärungen hatte die Flut sich immer weiter über die welligen Sandflächen zu ihren Füßen vorgeschoben. Schon hatte sie den Mont Saint-Michel erreicht und den Felsenhügel umschlungen. Die Niederung aus fahlgrauem Meersand war zum blauschimmernden Golf geworden, über dem die Sonne funkelte. Dieser Anblick erinnerte Raymond daran, daß die kostbare Zeit verging. Er übernahm wieder das Kommando:
    „Auf, ihr Meerkatzen, wir müssen weiter!“
    Sie ließen die Stadt hinter sich und bogen in die Straße zur Rechten ein, die an der Küste entlang zum Mont Saint-Michel führt. Der Gedanke, daß sie sich Courtils unaufhaltsam näherten, beflügelte sie. Noch zehn Kilometer, noch fünf, nur noch zwei …
    „Da sind wir!“
    „Urra-a-uh!“
    Sie stellten eilig ihre Fahrzeuge ab und stürmten ins Innere des wild verwucherten Grundstückes, um die erste Abteilung der Meerkatzen zu begrüßen. Das Grundstück lag verwaist. Ein Vogel flog mit spitzem Schrei auf. In der Ferne hielten Seemöwen eine wichtige Versammlung ab. Die vordringende Flut schickte immer neue Wellenzungen zur Küste hin. Doch weit und breit keine menschliche Spur, wenn man von einem großen Zeltpflock absah, der noch von den Ferien im Vorjahr stammte.
    Raymond sprach die allgemeinen Empfindungen aus.
    „Was soll man dazu sagen!? Ich hätte nicht für möglich gehalten, daß wir die ersten sein würden. Wir hatten schließlich den weitesten Weg …“
    Die anderen folgten ihm wortlos zum Strand hinunter. Auf dem grasbewachsenen Ufersaum kam ihnen ein barfüßiges Mädchen entgegen. Zuerst erkannten sie sie nicht, aber dann legte sie ihre Hände wie einen Schalltrichter an den Mund und brachte ganz richtig den Schlachtruf der Meerkatzen zustande.
    „Urra-a-uh!“
    „Suzanne!“ schrien die Jungen.
    Suzanne Grellet war das einzige Mädchen, das sich gelegentlich ihrer Bande anschließen durfte, weil sie die Kusine von André Vieljeux war. Ihre Eltern kamen alljährlich im September auf ein paar Wochen zu Verwandten nach Avranches. Darum erschien Suzanne immer erst gegen Ferienende, wenn alle übrigen sich schon zur Heimreise rüsteten.
    Mächtig verändert hatte sie sich seit dem vergangenen Sommer! Sie mußte jetzt bald vierzehn Jahre alt sein. Die Jungen stellten sich geradezu ein bißchen schüchtern an, als das Mädchen ihnen die Hand hinstreckte.
    „Die Warterei wurde mir zu langweilig. Da bin ich auf die Suche nach Herzmuscheln gegangen. Sie liegen ganz dicht unter dem Sand. Man braucht sich noch nicht einmal nach den beiden kleinen Löchern umzusehen, die sie machen, um atmen zu können. Wenn man hier umhergeht, dann fühlt man sie schon unter den Füßen. Da, seht!“

    Sie zeigte den Inhalt ihres zusammengeknoteten Taschentuches vor.
    „Willst du mit uns zelten? Bist du allein gekommen?“
    „Nein, bleiben kann ich nicht. Aber André hat sich eine scheußliche Erkältung geholt, darum hat seine Mutter ihn nicht weggelassen. Wenn es ihm morgen besser geht, kommt er nach. Ich sollte euch nur Bescheid sagen; heute abend muß ich nach Avranches zurück. Aber solange kann ich bei euch bleiben. Das heißt, wenn ihr mich brauchen könnt.“
    Ein vierfaches Lächeln gab zu erkennen, daß die Einschränkung überflüssig war.
    „Ich wollte schon wieder
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