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Der versunkene Wald

Titel: Der versunkene Wald
Autoren: Michel Rouzé
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I. Kapitel
    DREI PAAR RÄDER
    „Beeil dich ein bißchen! Wir warten nicht auf dich!“
    „Warum sagst du denn nicht gleich, daß du es nicht schaffst?“
    Die Straße zum Dorf Carolles stieg ziemlich an, aber für den blaugrauen Motorroller mit den beiden kräftigen Jungen bedeutete das nicht viel. Ihre Gesichter waren von der Sommersonne an der Küste des Ärmelkanals braungesengt. Auf dem Gepäckträger hinter ihnen türmten sich unbeschreibliche Gepäckmengen, obenauf ein bis zum Platzen vollgestopfter Tornister und eine ziemlich liederlich zusammengerollte Zeltbahn.
    „Na, wie steht’s? Abschleppseil gefällig?“
    „Laß dir ruhig Zeit, Mann. Wir schreiben dir vom Mont Saint-Michel eine Ansichtskarte.“
    Die boshaften Bemerkungen hagelten nur so. Der fünfzehnjährige Raymond Lefevre und auf dem Rücksitz sein jüngerer Bruder, der zehnjährige Jacques, drehten übermütig und alle Vorsicht außer acht lassend die Köpfe zurück zu dem Fahrrad mit dem tuckernden Hilfsmotor, das sie eben auf der platanenumsäumten Straße überholt hatten.
    Sie bekamen keine Antwort. Pierre Faugeras brauchte alle seine Kräfte, er trat mit wilder Energie in die Pedale, um die Steigung am Felsenhang der Pointe de Carolles zu überwinden. Auf der Landkarte gehört dieses Gebiet noch zum Departement de la Manche, aber schon lange vor den Grenzen der Normandie verliert die Landschaft bereits die liebliche Sanftheit der normannischen Täler und vermittelt eine Ahnung von den rauhen Klüften der bretonischen Küste.
    Pierres Knie hoben und senkten sich krampfhaft. Sie rutschten dabei immer ein wenig zur Seite, wie zu locker eingeschraubte Kurbeln. Mit seinen dreizehn Jahren war Pierre schon fast so groß wie sein Vater, der Ingenieur Faugeras; dadurch wirkte er noch magerer als er ohnehin schon war. „Ins Kraut geschossen“, sagte sein Vater von ihm. Aber hinter dem Scherz verbarg sich die Sorge um die Gesundheit seines Jungen.
    Diese Sorge war freilich kaum berechtigt: Pierre konnte noch so rasch wachsen, es ging ihm großartig dabei, und er bewies bei jeder Art Sport eine erstaunliche Ausdauer. Man brauchte ihn nur in diesem Augenblick auf der steilen Landstraße nach Carolles zu sehen, wie er die Lenkstange seines Fahrrades umkrampft hielt und mit zusammengebissenen Zähnen fuhr und fuhr — eisern entschlossen, unter keinen Umständen hinter seinen Freunden zurückzubleiben. Raymond und Jacques hatten es inzwischen aufgegeben, ihn zu hänseln, ihre Aufmerksamkeit wurde anderweitig in Anspruch genommen. Sie hatten sich zu häufig sorglos umgedreht, und durch diesen Leichtsinn hätte die ganze Fahrt fast ein vorzeitiges Ende genommen. Raymond war zu weit nach der Straßenmitte hin geraten. Plötzlich streifte ihn ein großer Wagen, der in beängstigender Geschwindigkeit in Richtung Carolles an ihnen vorbeisauste. Erschrocken warf der Junge das Steuer so heftig herum, daß der Roller auf die Böschung zuschoß und erst nach geradezu akrobatischen Zickzackwendungen das Gleichgewicht wiedergewann. Sie waren eben auf der Höhe angelangt, dort, wo die Straße den Wald verläßt und den kleinen Ort erreicht. Jacques, dem der Schreck noch in den Gliedern saß, klammerte sich an der Maschine fest, so gut er konnte. Plötzlich wurde ihm die Baskenmütze vom Kopf gerissen. Ein wohlbekannter Schrei erscholl: „Urra-a-uh!“
    Das war der Siegesruf des Stammes der Meerkatzen. Pierre hatte ihn ausgestoßen zum großen Entsetzen einer Kinderschar, die mit Fischernetzen über den Schultern zum Strand hinunterzog. Die Meerkatzen waren eine Jungenbande, die sich seit einigen Jahren in jedem Sommer an der normannischen Küste zwischen Granville und dem Mont Saint-Michel zusammenfand. An ihrem Schrei erkannten sich die Mitglieder des Stammes schon auf weite Entfernung.
    „Urra-a-uh!“
    Pierre hatte die Tempoverminderung des Mopeds und den Vorteil genutzt, daß die Straße ein Stück ohne Steigung verlief, und hatte sich mit dem letzten Einsatz seiner Kräfte an die Spitze gesetzt. Im Vorbeifahren war es ihm gelungen, Jacques die Mütze abzureißen. Er schwenkte sie nun als Siegestrophäe über seinem Kopf wie ein Indianer den Skalp des überwältigten Feindes.
    Es wäre sicher nicht schwierig für die Brüder gewesen, ihn aufs neue zu überholen. Aber vor einem kleinen Lebensmittelgeschäft in Carolles endete, beim Stand von eins zu eins, die vorläufig letzte Runde in dem Kampf, der seit Beginn der Ferien zwischen Raymond, Jacques und Pierre
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