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Der versunkene Wald

Titel: Der versunkene Wald
Autoren: Michel Rouzé
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gegen das Jahr 1200 war der Mont Dol keine Insel mehr. Aber die Bäume wuchsen nicht wieder. Wenn man im Moorboden von Dol nachgräbt, findet man dort noch die Spuren ehemaliger Wälder: riesige Eichen, deren Holz durch das lange Lagern unter der Erde eine eigentümliche Beschaffenheit angenommen hat. Es wird nach dem Ausgraben sehr hart, und man benutzt es zur Kunsttischlerei. Auch bei Courtils hatte der Sand wieder den Sieg über das Meer davongetragen.
    Unter den spöttischen Blicken von Suzanne versuchte Pierre, sich alles in Erinnerung zu rufen, was er über die Küstenverschiebungen gelesen hatte, als er plötzlich in der Umgebung ihres Lagers einen Beweis seiner Ausführungen entdeckte.
    „Da!“ rief er. „Sieh dir dort hinten die Bodenschwelle an, die sich so gerade durch das Land zieht. Weißt du, was das ist? Ein kleiner Deich, der einen Polder abgrenzt, ein Stück Land, das früher einmal dem Meere abgewonnen wurde.“
    Aber Suzanne gab sich noch nicht geschlagen.
    „Hat man hier etwa auch schon Bäume ausgegraben?“ fragte sie.
    Raymond unterbrach die Auseinandersetzung.
    „Sagt mal, Kinder, meint ihr nicht, wir sollten jetzt unsere Zelte aufschlagen? Meinetwegen können wir uns ja dabei weiter über den Wald von Quokelunde streiten …“
    „Kommt nicht in Frage!“ protestierte Suzanne. „Ich bin nicht hergekommen, um zuzusehen, wie ihr arbeitet. Ihr könnt euer Lager heute abend auch noch einrichten. Ich möchte von meinem freien Nachmittag etwas haben.“
    „Wie wär’s, wenn wir schwimmen gingen?“ schlug Jean vor. „In einer Stunde ist das Meer schon ganz nahe. Und ich finde es schöner, noch bei steigender Flut zu baden.“ Raymond warf einen Blick auf die Uhr und überlegte. „Suzanne hat ganz recht“, sagte er. „Wenn die anderen zu spät kommen, ist es ihr eigenes Pech. Wir brauchen ihretwegen nicht den ganzen Tag zu vertrödeln. Pierre hat mich auf einen Gedanken gebracht. Wollen wir nicht zum Mont Saint-Michel?“
    Der Vorschlag rief große Begeisterung hervor. Jeder von ihnen war natürlich schon einmal auf dem Mont Saint-Michel gewesen, aber immer gemeinsam mit der Familie und ohne allzugroßen Spaß an der offiziellen Besichtigung. Wenn sie jetzt zusammen hingingen und sich völlig frei bewegen konnten, dann war das wirklich etwas nie Dagewesenes. Es kam ihnen vor, als sollten sie den ,Mont‘ zum allerersten Mal sehen …
    Und dann, dieser Wald! Wenn sie jetzt über den weiten Sandstrand hinblickten, hofften sie geradezu, daß hier oder dort ein verhärteter Baumstamm zum Vorschein kommen werde, der dem gefräßigen Salz getrotzt hatte …
    Die Überreste der Mahlzeit, darunter eine beachtliche Menge geleerter Muscheln, wurden rasch zusammengelesen und im Küstensand begraben. Die Meerkatzen hielten in ihrem Reich auf Sauberkeit und betrachteten als zünftige Lagerinsassen die Sonntagsspaziergänger, die jeden noch so schönen Fleck Erde mit Käseschachteln und Butterbrotpapier verunzieren, als ihre persönlichen Feinde.
    „Können wir unser Gepäck nicht hierlassen? Wir brauchen doch nicht den ganzen Kram mit herumzuschleppen?“
    „Das wäre ziemlich leichtsinnig, Jacques. Es ist niemand im Lager, und man kann nicht wissen, wer hier vorbeikommt, während wir weg sind.“
    In praktischen Dingen verließen sie sich immer auf den verständigen Raymond. Es waren nur vier oder fünf Kilometer bis zum ,Mont‘, und Suzanne lud einen Teil von Jeans Gepäck mit auf ihr Rad. Als sie den Damm erreichten, der mitten durch den Sandstrand bis zum Fuße der Abtei führt, war es halb ein Uhr geworden. Der dunstige Nebel hatte sich völlig gehoben. Berauscht von Sonne und Freiheit, begannen die Meerkatzen im Chor zu singen. Sie wären sehr erstaunt gewesen, wenn ihnen jemand vorausgesagt hätte, daß sie an diesem Abend ihr Lager nicht in Courtils aufschlagen würden und daß ihre jetzige Fahrt der Beginn eines aufregenden Abenteuers war.

III. Kapitel
    FOLGEN SIE DEM FREMDENFÜHRER!
    „Das war eine prima Idee von dir!“ rief Jacques seinem Bruder ins Ohr, um das Brausen des Windes und den Lärm des Motors zu übertönen. „Seit heute morgen haben wir immer wieder den ,Mont‘ liegen sehen. Ich habe richtig Lust bekommen, ihn mir noch einmal aus der Nähe anzusehen.“
    Am Ende des schnurgeraden Dammes, den auf einer Seite der eigenwillig gewundene Flußlauf des Couesnon durch die Sandebene begleitet, wuchs ihnen der ,Mont‘ immer höher entgegen. Der Couesnon bildet die Grenze
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