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Der versunkene Wald

Titel: Der versunkene Wald
Autoren: Michel Rouzé
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umkehren, weil kein Mensch hier war. Ich hatte gehofft, daß ihr mir etwas zu essen gebt, dummerweise habe ich mir nämlich nichts mitgenommen. Hoffentlich seid ihr nicht böse, wenn ich mich bei euch einlade?“
    „Na, hör mal!“ sagte Raymond lachend. „Wo du das Beste dazu lieferst, deine ganz frischen Muscheln!“
    Sie brachen die Schalen mit ihrem Messer auf. Es knirschte zwar ein bißchen sandig beim Essen, aber wenn man nicht allzu fest zubiß, dann schmeckte das frische Muschelfleisch ausgezeichnet. Raymond vergaß darüber sogar seine Anchovispaste.
    Dem leckeren Vorgericht folgten die Brote mit Schinken und Käse, die Frau Lefèvre für ihre Söhne zurechtgemacht hatte, damit sie am ersten Lagertag noch keine Küchensorgen haben sollten.
    Das Mahl war bald beendet. Die fröhliche Stimmung wurde nur dadurch getrübt, daß sie sich immer wieder fragten, warum die anderen nicht kamen. André Vieljeux war krank, gut, — aber wo blieben die Brüder Petit? Hoffentlich war da nicht auch etwas Unvorhergesehenes passiert! Und Michel Grandier? Aber bei ihm hatten sie ja von vornherein die Überzeugung gehabt, daß er wahrscheinlich erst abends auftauchen würde …
    Es war genau zwölf Uhr. Trotz des nahenden Herbstes meinte es die Sonne noch überaus gut. Die Möwen am Strand hatten ihre Beratungen beendet; jetzt kreisten sie fern über den Wogen und stießen dann und wann blitzschnell die Schnäbel nach einer Beute ins Wasser.
    „Um welche Zeit ist die Flut am höchsten?“ fragte Jacques.
    „Gegen vier“, antwortete Pierre. „Sie wird sogar ganz nahe bis hier herankommen. Wir sind jetzt in der Zeit der wilden Wasser; morgen fangen die Springfluten an.“
    „Wenn es Sturm gibt, können wir vielleicht eine Sintflut miterleben wie die von damals, als der Wald von Quokelunde unterging!“
    „Dann wohnen nächste Woche die Taschenkrebse in unserem Lager!“
    „Ach was, es gibt keinen Sturm! Seht euch doch den Himmel an …“
    „Schade!“ murmelte Jacques in tiefen Gedanken. „Ich hätte gerne eine Sintflut mitgemacht.“
    „Du vergißt bloß, daß wir dabei ertrinken würden!“
    „Ach so — daran hatte ich wirklich nicht gedacht.“
    Alle lachten. Nur Suzanne fragte neugierig:
    „Was war das für eine Sintflut? Und von welchem Wald redet ihr da?“
    Pierre begann aufs neue, von der alten Handschrift über den Mont Saint-Michel zu erzählen. Er ergänzte seinen Bericht durch so viele Einzelheiten, daß die Jungen ihm zuhörten, als erführen sie etwas ganz Unbekanntes. Außerdem war es hier, an dem unermeßlich weiten Strand, den das Meer vor ihren Augen Stück um Stück wieder überflutete, noch viel seltsamer, sich vorzustellen, daß da vor Jahrhunderten nichts als Wald, undurchdringlicher Wald gewesen sein sollte.
    „Wo wir jetzt sitzen, wären wir mitten im Wald von Quokelunde …“

    „Eine höchst erstaunliche Geschichte!“ bemerkte Suzanne ironisch. „Wenn hier Bäume waren, die mittlerweile nicht mehr da sind, dann werden sie eben abgeholzt worden sein. Was hat das Meer damit zu tun? Schließlich sind wir hier auf dem Festland …“
    Die Meerkatzen bezweifelten selten etwas, was Pierre ihnen sagte. Sie kannten ihn als einen Jungen, der über eine Menge interessanter Dinge Bescheid wußte und viel zu ehrlich war, um etwas daherzuschwatzen, wovon er nicht ganz überzeugt war. Aber bei aller Anerkennung seiner Überlegenheit ärgerten sie ihn doch gern und gaben sich die größte Mühe, ihn manchmal in Verlegenheit zu bringen. Sie genossen es, wenn er dann unsicher wurde und sein Gesicht den allzu gelehrten Ausdruck des angehenden Professors verlor.
    „Aber es ist wirklich das Meer gewesen, was den Wald zerstört hat“, antwortete er. „Die Geschichte der Bucht von Saint-Michel ist nicht so einfach zu verstehen …“
    Pierre hatte recht, wenn er sich auch des Herganges nicht im einzelnen entsann. Vor sechzehn oder siebzehn Jahrhunderten war das Meer weit ins Land hinein vorgedrungen, viel weiter als es heute selbst zur Zeit der Springfluten gelangte. Im Süden des Mont Saint-Michel erreichte es fast den Punkt, wo jetzt das Dorf Courtils liegt. Der Couesnon mündete damals schon vor den Toren von Pontorson ins Meer. Weiterhin an der bretonischen Küste war der Mont Dol, wie der Mont Saint-Michel früher einmal eine Felsenhöhe inmitten von Wäldern, ebenfalls zur wellenumspülten Insel geworden. Später verschoben die von der See herangetragenen Sandmengen die Uferlinie meerwärts, und
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