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Der versunkene Wald

Titel: Der versunkene Wald
Autoren: Michel Rouzé
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    „Gut, gut“, unterbrach ihn Raymond. „Dann muß es auch so gehen. Wir haben noch sechzehn Kilometer bis Avranches und dann noch einmal soviel bis Courtils. Du, Pierre, machst deinen Gepäckträger frei. Wir packen deine Sachen auf unser Moped. Dafür nimmst du Jean hinter dich.“
    Das Umladen ging schnell vor sich. Jacques bekam eine für seine zehnjährigen Schultern reichlich schwere Last aufgepackt, aber er zuckte nicht mit der Wimper. Jean machte es sich auf dem Gepäckträger der ,Nähmaschine‘ möglichst bequem und gab sich Mühe, mit den Beinen nicht gegen die Räder zu stoßen.
    Unter den mitleidigen Blicken des Fahrradhändlers setzten sie sich in Bewegung. Es kam zwar kein Wettrennen mehr in Frage, aber sie würden in höchstens zwei Stunden an ihrem Ziel sein. Und dann ein dreifaches Hoch dem Stamme der Meerkatzen!

II. Kapitel
    DER VERSUNKENE WALD
    Hinter Saint-Jean-le-Thomas zieht sich die Straße landeinwärts, und das Meer ist nicht mehr zu sehen. Erst in Genets taucht es wieder auf, so unerwartet, daß es jedesmal einer Überraschung gleichkommt. Mitten im Dorf überquert die Straße ein Flüßchen, das in steinigem Bett dahinfließt, bis es sich in den Strand hinein verliert. Durch eine Lücke zwischen den Häuserreihen wird urplötzlich wieder der Mont Saint-Michel sichtbar, wie eine Märchenburg, die aus der weiten Sandebene emporwächst. Der Bau scheint gewaltig, obwohl es von Genets bis zur Abtei noch sechs Kilometer im Vogelflug sind. Nirgends ist dieser Ausdruck übrigens besser am Platze, denn bei Ebbe sind es allein die Vögel, die in gerader Linie den stellenweise von gefährlichem Flugsand bedeckten Golf überqueren können.
    Die Fahrt der Jungen ging ohne weitere Abenteuer vonstatten; nur bei der gefürchteten Steigung vor Avranches kamen sie ins Stocken. Der Roller schaffte sie trotz seiner Überbelastung noch ziemlich leicht, doch Pierre nützte alle Zähigkeit nichts mehr. Stehend trat er die Pedale, aber der kleine Hilfsmotor versagte auf Zweidrittelhöhe, und die beiden Jungen mußten sehen, zu Fuß weiterzukommen. Bei den ersten Häusern der Stadt wurden sie von den Freunden erwartet.
    Hier konnten sie wieder aufsteigen, und Pierre schlug vor: „Wir sollten zum Botanischen Garten fahren. Dort ist eine Terrasse, von der man den Blick über die ganze Bucht hat.“
    „Wozu?“ protestierte Jacques. „Wir sind doch keine Touristen. Außerdem sind wir sowieso schon viel zu spät dran.“
    „Kommt nur. Ich verpreche euch, daß es euch nicht leidtun wird.“
    Pierre war um zwei Jahre jünger als Raymond, aber wenn er es darauf anlegte, fügten sich die Kameraden stets seinem Willen. Sein Ansehen wurzelte einmal darin, daß er wirklich eine Menge wußte, und zum anderen, daß er der Sohn des Ingenieurs Faugeras war, dessen Plan zur Umwandlung der Bucht von Saint-Michel den Jungen gewaltigen Eindruck machte.
    Die Terrasse des Botanischen Gartens liegt hoch über der weiten Bucht. Es war inzwischen halb zehn geworden, und die Sonne hatte die Nebelfelder zerteilt. Die Meerkatzen konnten jetzt genau die Häuser am Steilhang des Mont Saint-Michel und sogar Einzelheiten der Abtei, die ihn krönte, unterscheiden. Hinter dem Felsenberg verlor sich ein grauer Küstenstrich in der Weite des Horizonts. Pierre wies auf eine Orientierungstafel, die alle Punkte der Landschaft erläuterte: „Da hinten liegt die Bretagne …“
    Keiner bereute den Abstecher. Staunend blickten die Jungen über die Wellentäler aus feuchtem Sand, die die Flut in ihrem ewigen Kommen und Gehen bald von neuem bedecken würde.
    „Merkwürdig!“ wunderte sich Jacques. „Es sieht aus, als hätte das Meer sich seit heute früh kaum von der Stelle gerührt.“
    „Du hast recht. Aber es ist jetzt eben ungefähr wieder dort, wo es heute morgen war. Es schlug sechs Uhr, als wir von Granville abgefahren sind, und gegen sieben sahen wir von den Klippen auf der Pointe de Carolles aus den ,Mont‘ das erste Mal. Bis etwa acht Uhr ist die Flut zurückgegangen. Jetzt steigt sie wieder. Ihr müßt genau hinsehen …“
    Der einzige Ort auf der Welt, wo das sichtbar wird, was jetzt vor ihren Blicken geschah, ist die Bucht von Saint-Michel. Die steigende Flut streckte gierige Zungen in den Sand vor. Von einem Augenblick zum andern wurden sie länger, wuchsen sie breiter, dann vereinigten sich einzelne Rinnsale; ein Sandfeld wurde zur Insel. Aber auch dieses Eiland würde bald versinken.
    „Die Flut erreicht hier eine Höhe
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